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»Kafka ist die große Lektüreerinnerung meiner Jugend. Der Prozeß fiel mir genau zu dem Zeitpunkt in die Hände, als ich vieldarüber nachdachte, was mir der Glaube und religiöse Wahrheiten bedeuten. Es war ein starkes, erschütterndes Erlebnis. Die Heimatlosigkeit, Verlorenheit darin, die ich so gut kannte, riss mich mit sich fort.«

Szilárd Borbély, dessen Romandebüt Die Mittellosen in Ungarn, danach in Deutschland, Frankreich, den USA und anderen Ländern zum literarischen Ereignis wurde, wollte seinen nächsten erzählerischen Text Franz Kafka widmen. Die Sammlung von Bruchstücken, ursprünglich zur Publikation bestimmt und nun aus dem Nachlass veröffentlicht, bezieht ihre Intensität aus der leidenschaftlichen Suche des Autorsnach sich selbst und der eigenen Stimme.

Kafkas Sohn – das ist ein junger osteuropäischer Schriftsteller, der lernt, im Schreibenseine Heimat zufinden. Kafkas »Brief an den Vater« dient ihm als Folie, sich mit der eigenen Herkunft auseinanderzusetzen. Die Prosastücke, formal hier und da an jüdische Geschichten und Legenden angelehnt, passagenweise an das Galeerentagebuch von Imre Kertész erinnernd, sind Selbstbekenntnis und Vermächtnis in einem.

Szilárd Borbély, 1964 in Fehérgyarmat im nordöstlichsten Winkel Ungarns geboren, debütierte 1988 als Lyriker und veröffentlichte rund ein Dutzend Gedicht- und Prosabände. Er war Hochschullehrer in Debrecen und übersetzte aus dem Deutschen, u. a. Lyrik von Monika Rinck, Robert Gernhardt und Durs Grünbein. Mit seinem Romandebüt Die Mittellosen (st 4664) hat er sich an die Spitze der Gegenwartsliteratur geschrieben. Im Februar 2014 nahm er sich das Leben.

Heike Flemming, 1982 bei Dresden geboren, studierte Philosophie und Ungarisch in Leipzig, Wien und Budapest, lebt als Übersetzerin u. a. von László Krasznahorkai, Péter Esterházy und Péter Nádas in Berlin. Zuletzt erhielt sie den Förderpreis zum Straelener Übersetzerpreis.

Lacy Kornitzer, in Budapest geboren, Theaterregisseur, Dramaturg und Übersetzer. Er dreht Kurzfilme, veröffentlicht Essays und übersetzt aus dem Ungarischen, u. a. Bücher von György Dragomán, Imre Kertész, Péter Nádas, Alaine Polcz, László Végel und István Örkény. Er lebt seit 35 Jahren in Berlin.

SZILÁRD BORBéLY

Kafkas Sohn

Prosa aus dem Nachlass

Aus dem Ungarischen übersetzt,
mit Kommentaren und mit einem Nachwort
versehen von Heike Flemming
und Lacy Kornitzer

Suhrkamp Verlag

Die Übersetzung folgt dem Manuskript Kafka fia, das sich im Nachlass des Autors befindet.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

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durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: Albrecht E. Arnold / pixelio

eISBN 978-3-518-75234-0

An den Leser

Dieser Roman spielt in Osteuropa. Er erzählt vom Reisen und von Reisenden. Von der Reise Franz Kafkas, der mit Franz Kafka nicht identisch ist. Und vom Bleiben an ein und demselben Fleck, ohne das das Reisen seinen Sinn verlöre. Vom Spazierengehen, bei dem man immer zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Und vom Raum, der alldem ratlos zuschaut. Den Spaziergänger begleitet und ihm folgt. Dem Menschen, der spazierengeht und nirgends ankommt. Der durch seine Bewegung bloß dem Raum Struktur gibt und die Räume verbindet. Räume, die in Osteuropa trotz allen Gedränges genauso einsam sind wie der Mensch, der sie mit seinem Spaziergang durchmisst.

Erzählt wird also von der Kindheit und von dem, was den Raum in Frage stellt, vom Zwilling also, der genauso ist wie man selbst. Davon, dass jeder einen Zwilling hat, der mit einem zusammen auf die Welt kommt. Die wichtigsten Jahre verbringt ein jeder mit diesem Ebenbild. Alle Spiele spielt man zusammen. Dann trennen sich die Wege. Man verliert seinen Zwilling, nur noch die Mutter wird sich an ihn erinnern. Väter wissen davon nichts. Die Väter sind weit weg, kotzen verkatert auf Arbeitsstätten aus erodierenden Wänden, haben Ohrensausen, Schwindel im Kopf; sie starren in der Kneipe mit ausdruckslosem Gesicht in den Zigarettenrauch, ziehen über Schlachtfelder inmitten der wechselvollen geographischen Verhältnisse Osteuropas und sterben ernüchternd früh oder bleiben verzweifelt am Leben, doch von all dem, was nun erzählt werden wird, wissen sie nichts und wieder nichts.

Von diesem unablässigen Zug erzählt dieses Buch, davon, wie in Osteuropa Söhne zu Vätern werden und die Vorwürfe vergessen, die sie in der Kindheit und Jugend gegen die Welt der Väter vorbrachten. Wie sie die zur Faust geballte Hand vergessen, die sie in der Jugend gegen die Welt der Väter erhoben und unter Flüchen schüttelten. Wie sie nicht viel später mit diesen Fäusten jene zu blutigen Fleischfetzen schlagen, die die Fäuste gegen sie erheben, während sie selbst schon erlahmen und untertänig nach den Almosen greifen, die ihre Herren ihnen zuwerfen. Von den Worten also, die sie wie abgegriffene Groschen miteinander tauschen. Es erzählt also vom Vergessen. Das heißt von mir, dem Verfasser des Buches, der mit mir nicht identisch ist, das heißt von meinem Zwilling. Davon, warum er sich einst auf den Flügeln der Worte auf den Weg machte, obschon ihn dazu nichts trieb. Eher zum Gegenteil: zum sprachlosen Verlust der Heimat in einem Land, in dem er nirgendwohin gehört. Es geschah unbewusst, noch bevor er gewusst hätte, wer er ist und was die Schrift und das Volk der Schrift. Nachdem seine Heimatlosigkeit durch eine unerwartete, doch umso zwangsläufigere Tragödie besiegelt worden war, brach er auf, um die zu verstehen, mit denen ihn genausowenig verband wie mit der eigenen Zukunft. Und um seinen Seelenschmerz zu ertragen, flüchtete er in seine Phantasie, um die Vergangenheit neu zu schreiben, die ihm niemals Heimat gewesen war, wie auch seinen Eltern nicht, die er verloren hatte. Und für die er, wie er es mit der Zeit immer stärker spürte, diese Geschichte erzählen muss. Für die Mutter und den Vater; für Julie und Hermann; die nurmehr Vergangenheit haben und nur noch in der Zukunft leben, in alle Ewigkeit. Omain.

*

Als dieses Buch begann, wusste ich noch nicht, dass mein Leben eine Serie nicht zueinander passender Abschnitte werden würde. Ich beobachtete das Wasser, das in den Graben floss. Beobachtete den Hof, der im Frühling wie Teig aufging und dessen Boden morastig wurde. Dann liefen wir nicht mehr darauf, sondern über Planken. Bald schon war der Boden von grünem Moos bedeckt, als sei zwischen Misthaufen und Tor ein großes Stück Samt gelegt worden. Lange war das Moos giftgrün, ein paar Tage phosphoreszierte es gar, bis es plötzlich verschwand. Was zurückblieb, wurde schwarz und stank widerlich. Der Boden brach in Scherben auf, die Ränder der Erdteller wurden rissig. Wir spielten dann damit. Man konnte sie aufsammeln. Wir sind also irgendwo in Osteuropa, wo man in der sumpfigen, von Wassern zerschnittenen unwegsamen Landschaft die Gänse schnattern hört, ihr Flügelschlagen, wie sie zischend, schnatternd, flatternd, stolpernd und einander tretend riesige Staubwolken aufwirbeln, immer voller Schreck vor etwas und von einer Panik in die nächste fallend, so fliehen diese dummen Tiere mit ihren lieblichen Köpfen.

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Der Anblick dieses Bildes presst mir immer das Herz zusammen. Ich kenne das Schicksal dieser Gänse, jedes Frühjahr werden sie groß, aber kaum eine von ihnen wird noch Weihnachten erleben. Der Martinstag markiert traditionell den Grenzpunkt ihres Lebens. Auf die glücklichen Frühlingstage, wenn sie mit zerkleinerten Brennnesseln und Maisbrei verwöhnt werden, auf die satten frühsommerlichen Weiden und mächtigen Regenfälle des Frühjahrs folgt der Herbst, in dem die ausgewachsenen Gänse auf einem winzigen Fleck zusammengepfercht werden, doch durch die Ritzen des Lattenzauns noch die Köpfe herausstrecken können. Dann kommt der Herbst mit seinem Schlamm, Raureif, Feldmannstreu und Mariengarn, und schwer werden auch diese stolzen Tiere, die jedoch nicht fliegen können. Sie können nur laufen und schwimmen, aber an das Fliegen erinnern sie sich nicht mehr, und wenn die Zeit der Herbstregen in Osteuropa gekommen ist, überqueren diese Vögel mit der Schwimmhaut an den Füßen noch immer leichtfüßig die schlammigen Wege, die alle anderen Geschöpfe für immer an sich ziehen und es ihnen unmöglich machen, jemals von hier zu fliehen.

Der Herbst bringt ihnen das Wintergefieder, das sie vor der elendigen Kälte der Nächte schützt. Doch er bringt ihnen auch den Stall, aus Latten, Zweigen und Sonnenblumenstengeln zusammengetakelt, so dass die Gänse nicht herumlaufen können, es sich abgewöhnen, und wenn sie den frischen Mais bekommen, der zur leichteren Verdauung eingeweicht und gequollen und mit winzigen Apfelstücken verfeinert ist, wollen und können sie sich auch nicht mehr bewegen. Sie sitzen nur noch auf dem schlammigen, einst mit Stroh bestreuten Boden voller Gänsemist. Sie können die Köpfe durch die Ritzen des Stalls herausstrecken, müssen sich nicht einmal erheben, um zu trinken, vor ihren Augen liegt der gequollene Mais. In ihrer Langeweile essen sie und essen sie. Und wenn sie selbst dazu keine Kraft mehr haben oder dessen überdrüssig geworden sind, kommt die Zeit des Stopfens. Die Frauen halten die Gänse zwischen die Schenkel gepresst, nur die Köpfe ragen nach oben, gerade so hoch wie die Hände, so dass sie mit den von winzigen Apfelstücken durchsetzten, gut eingeweichten und gequollenen Maiskörnern gestopft werden können. Die Frauen drücken das Futter mit der Hand durch den langen Hals der Gänse in den Vormagen. Die Gänse werden immer dicker, röcheln, ersticken fast, und die Frauen freuen sich, denn sie wissen, dass die Leber der Gänse so immer größer und fetter wird. Dann kommt der Martinstag oder für einige Gänse Weihnachten, und sie werden geschlachtet. Denn das ist in Osteuropa das Schicksal der Gänse. Doch wenn ich es richtig bedenke, dann nicht nur ihres.

Aus Hermanns Aufzeichnungen

Der Sohn ist der Mangel des Vaters, daran erinnert alles, seit Franz tot ist. Die ersten Jahre waren noch leicht, denn ich lebte vom Trotz wie jene, die gegen die Trauer ankämpfen. Ich gab Gott nicht recht, der mir meinen Sohn genommen hatte, dabei war ich auf seinen Tod längst vorbereitet gewesen. Seit dem Tag, als er, vielleicht dank des Drucks, den ich auf ihn ausgeübt hatte, seine Ängste bezwang und sich zur Brautwerbung entschloss, rieben sich seine Kräfte auf, die ihn bis dahin vor dem Leben geschützt hatten. Vor mir, so hätte er gesagt. Vor dem Allmächtigen, würde ich sagen, der ihn so ausgeliefert geschaffen hatte. Als er seine ganze Kraft zusammennahm, all seine natürlichen Ängste bezwang, am … 1914 um Felices Hand bat <Text bricht ab>

Der Vater ist das Grab des Sohnes.

Der Sohn ist das Leben des Vaters. Der Vater ist der Tod des Sohnes.

Kafka und die Straßen

Kafka war in Prag lange Zeit bloß der Name eines Kaufmanns. Kafka war ein Kaufmann wie viele andere. Anfangs hieß er Hermann. Mit der Zeit änderte der angesehene innerstädtische Kaufmann seinen Vornamen auf Herrmann. In der nach dem Krieg selbständigen Tschechoslowakei wurde er Heřman, um sich an die zunehmend tschechisch und zunehmend nationalistisch orientierte Umgebung anzupassen. Mit dem Namen Kafka gab es keine Probleme, denn das ist von vornherein ein tschechisches Wort, das Dohle bedeutet. Obwohl das F in der Mitte des Wortes nach einem Irrtum aussieht. Es sollte vielmehr ein V da stehen. Kafka klingt eher wie die Nachahmung eines Lautes, es hört sich an, als käme es aus irgendeiner tierischen Kehle hervorgeröchelt, und erst hinterher mögen die Tschechen darin Laute, menschliche Laute erkennen. Eigentlich lautet das tschechische Wort kavka, Dohle. Es will also eher den Laut der Dohle anklingen lassen, das heisere Räuspern, dumpfe Reiben, das diese klugen Vögel von sich geben. Zumindest nach Ansicht der Tschechen. Denn im Ungarischen zum Beispiel weckt der Name desselben Vogels, csóka, eine viel entferntere Erinnerung. Und noch sonderbarer ist, dass der Laut aus der Kehle eines Vogels aufsteigt und nicht aus der eines Säugetiers. Die Vögel sind den Menschen viel entfernter. So anmutig sie die Luft auch durchschneiden, ihre Köpfe und Bewegungen erinnern eher an Reptilien, ihre Vorfahren, an Saurier. Das ausdruckslose Auge, der sich possierlich drehende Kopf und generell das fehlende Gesicht lösen bei den Säugetieren Angst aus. In unseren Augen sind die Vögel fossile, verzauberte Wesen, hiergebliebene Fossilien aus der Vorzeit. Fliegende Fossilien zwar, aber dennoch Fossilien. All das trifft auch auf die Dohle zu, und man hat versucht, die seltsam röchelnden Laute dieses schwarzen Vogels nachzuahmen, etwa so: kav-kav. Kav-kav. Kafka dachte immer an diese melancholische Stimme, wenn er sich voller Entsetzen den Namen seines Vaters in Erinnerung rief. Dieser schwarze Vogel hüpft überall in Osteuropa auf den Feldern umher, versteckt sich zwischen den Sträuchern am Waldrand, den Baumreihen entlang den Äckern und Weiden und in den Ästen der Bäume. Bei uns galt die Dohle als Symbol der Armut. Früher fing man sie gern und brachte ihr, da sie klug ist, manche Kunststücke bei. Die Zigeuner, die in Osteuropa bekanntlich lange wie Naturvölker lebten, schlossen mit den Dohlen eine enge Freundschaft. Die entbehrungsreichen Winter, in denen die Dohlen auf den Feldern nichts fanden, lehrten die beiden Kreaturen, ihre Verwandtschaft zu erkennen. Weder die Dohlen noch die Zigeuner wollten Kaufleute werden, im Gegensatz zu Kafka. Denn Kafka war schon immer gern ein Kaufmann.

Kaufmann zu sein bedeutete damals, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, im finanzschwachen, armen Osteuropa, die Fähigkeit strengen und erbarmungslosen Sparens. Nicht der Sparsamkeit, sondern der ausbeuterischen, knausrigen Gnadenlosigkeit. Doch es bedeutete auch die Kunst des Schweigens und des Redens, wie es dies Jahrtausende hindurch bedeutet hatte. Geschäftemachen ist das Wissen, Worte schlau zu verwenden, nicht, rätselhaft zu schweigen. Das heißt, es bedeutete Feilschen und Ausharren. Feilschen ist der Verlust der Sprache und der Wechsel von Worten. Ich gebe dir ein Wort, du gibst mir dafür ein anderes. Doch ich vergeude meine Worte nicht, ich bewahre sie auf. Wer beim Sparen unnachgiebiger zu sein vermochte, konnte Kaufmann bleiben. Wer nicht fähig war, hartnäckig auszuharren, konnte nicht mit Erfolg rechnen. Kafka verfügte über eine auffallende Körpergröße. Er war ein kräftiger, entschlossener Mann. Er hatte gelernt, dass er sich allein auf die eigene Kraft verlassen konnte. Es gibt Männer, die durch Einsamkeit schroff werden und ihre Gefühle später nicht mehr zeigen können. Wer das Ausgestoßensein durchlebt, taut in keiner Gemeinschaft mehr auf, selbst dann nicht, wenn er in sie aufgenommen wird. Kafka war aus der Provinz nach Prag gekommen, aus der Provinz in die Stadt. Er kam von Süden, zu Fuß, und ließ den Weg hinter sich, indem er alles niederriss. Die Brücken, die er überquerte, die Dörfer, die ihn von Hand zu Hand weiterreichten, die Herbergen, in denen er abstieg. Und er baute alles allein wieder auf. Er musste alles neu schaffen. Sein Geschäft, die Waren, seinen Bekanntenkreis, die Gemeinde mit dem Rabbi und dem Kantor, er schuf die Straße, über die er morgens und nach dem Mittagessen ins Geschäft ging. Kafka selbst erschuf Prag um sich herum. Anfangs kannte er in der Stadt nichts. Auch nicht die Namen, wie dieses und jenes hieß. Als er in Prag ankam, gab es die Stadt noch nicht. Es werde, sprach Kafka, und es ward. Das wusste sein Sohn, Kafka, nur zu gut. Er wusste, Prag hätte es ohne seinen Vater nie gegeben, keinen Hradschin, keine Karlsbrücke, auch nicht das alte Prag mit dem Ghetto, den Kirchen, den Türmen. Die Gestalt des immer noch großen und stattlichen Vaters gemahnte ihn wie ein Ausrufezeichen an seine eigene Schwäche. Wenn Kafka in seinen Laden eilte, konnte man ihn schon von weitem an seinem großen würfelförmigen Kopf erkennen. Selbst sein Haar war so geschnitten, dass es die Würfelform des Schädels noch betonte. Hermann war ein Bauelement der Gesellschaft, ein verlässlicher Pfeiler. Im Gegensatz zu Franz, der eher der verbindende Bogen zwischen zwei Pfeilern war. Dieser Bogen zeichnete sich allerdings nur in der Vorstellung ab. Und wer ihn überqueren wollte, ging auf dem Nichts.

Dieser Roman spielt in Osteuropa. In Wirklichkeit ist es gar kein Roman und spielt auch nirgendwo. Er erzählt keine Ereignisse, wie ein Roman sonst Geschichten erzählt, er möchte ihm nur ähneln. In Wirklichkeit erzählt er vom Reisen. Vom Reisen Kafkas, der mit Kafka nicht identisch ist. Das heißt, vom Bleiben an ein und demselben Fleck, ohne das das Reisen seinen Sinn verlöre. In Wirklichkeit erzählt er nicht von Franz Kafka, dem Sohn Kafkas, sondern vielmehr vom Vater. Das heißt von Kafkas Vater, dem gefürchteten Hermann Kafka. Weil Söhne immer die Geschichte der Großväter verstehen. Und umgekehrt: das eigene Leben begreifen Großväter durch die Geschichten der Enkel. Doch noch eher wird von einem Geheimnis erzählt. Einem Gerücht, in dem es um Kafkas Sohn geht, der vielleicht niemals existiert hat. Eine merkwürdige Geschichte, soviel ist sicher. Wie aber im Falle von Romanen üblich, erscheint darin unvermeidlich auch der Autor. In Wirklichkeit wird also von der Kindheit des Autors die Rede sein. Und davon, warum er sich eines Tages auf den Flügeln der Worte – um es hochtrabend zu sagen und falls Worte Flügel haben – auf den Weg machte, obschon ihn dazu nichts trieb. Eher zum Gegenteil: zum sprachlosen Verlust der Heimat in einem winzigen osteuropäischen Dorf, in das ihn der Zufall der Geburt verschlagen hatte. In einem Land, in dem er als Person nirgendwohin gehörte und in dem er – aus Gründen, für die er nichts kann – nirgendwohin gehören würde. Das lernte er sehr schnell, zusammen mit dem Sprechenlernen. Deshalb kam ihm alles so bekannt vor, was er Jahre später in Kafkas Texten las. Und er lernte auch, im Schreiben eine Heimat zu finden. All das geschah unbewusst, noch bevor er gewusst hätte, wer er ist und was das Schreiben. Und noch bevor er vom Volk der Schrift gewusst hätte. Nachdem seine Heimatlosigkeit durch eine unerwartete, doch umso zwangsläufigere Tragödie besiegelt worden war, machte er sich auf den Seiten dieses Romans auf den Weg, um die zu verstehen, mit denen ihn genausowenig verband wie mit der eigenen unausweichlichen Zukunft. Vielleicht tat er all dies, um seinen Seelenschmerz ertragen zu können. Denn er hatte zwar die Selbstverachtung gelernt, liebte aber dennoch die gewichtigen Worte. Seine Leser verschonte er nicht mit der Darstellung des Schmerzes seiner Helden, der hier in Osteuropa eine allzu bekannte Erfahrung ist. Genauso wie der unablässige Kampf mit dem Schicksal, der die Helden auch gegen ihren Willen zu tragischen Helden weiht. Deshalb flüchtete auch er in die Phantasie, um die Vergangenheit neu zu schreiben, die ihm niemals Heimat gewesen war, wie auch seinen Eltern nicht, die spurlos in der Zeit untergegangen waren. Ihretwegen verspürte er immer stärker den Drang, diese Geschichte erzählen zu müssen.

Für sie. Für sich selbst. Für Kafkas Sohn: für den Vater und den Sohn. Amen.

Kafka und mein Zwillingsbruder

Ich muss noch von meinem Zwillingsbruder erzählen, der mir vollkommen gleicht. Er ist beinahe haargenau so wie ich. Einen winzigen Unterschied gibt es zwischen uns: auf der linken Iris habe ich einen unregelmäßigen Fleck, so als wäre ein kleines Loch in der Struktur der strahlenförmigen Iris, während der Fleck sich bei ihm auf der rechten Iris befindet. Als sei dort einmal eine Nadel durchgestochen worden. Die Iris ähnelt auffallend der Zielscheibe, auf die die Bogenschützen beim Training in der Puszta schießen. Im Morgengrauen, und auf eine graue Zielscheibe. Geräuschlos huschen sie auf ihren Zwergpferden vorüber wie Falken bei ihrer nächtlichen Jagd. Nur die, die ihre Augen schließen, treffen das mit der Dämmerung verschmelzende Ziel. So ging es mir mit meinem Zwillingsbruder. Der Fleck befindet sich bei ihm im rechten Auge. Stets wussten wir, wo der andere sich gerade aufhält. Die Farbe unserer Augen aber ist genau die gleiche. Unsere Augen sind so grau wie der Grund des Bleilöffels. Wir besitzen so einen Bleilöffel und bewahren ihn in der Mehldose auf. Mit ihm misst unsere Mutter die nötige Menge Mehl für den Teig ab. Als wir Kinder waren, spielten wir gern damit. Er war in einem Haus, im Haus war er in einem fensterlosen Zimmer, das nannten wir die Kammer, in der Kammer war er in einem Schrank, im Schrank war er in einer Blechdose, in der Blechdose war das Mehl, und die Blechdose war farbig und die Farbe mit der Zeit abgeblättert. Den vor langer Zeit daraufgeschriebenen Namen konnte man gerade noch entziffern. Kafka. Und auch ein anderes Wort zeichnete sich ab, wenn wir sehr genau hinsahen: Bohemia. Dieses Wort mochte ich besonders gern. Bohemia. Es klingt wie ein Ausflug. Der Name eines fernen, einst gekannten Verwandten. Wenn unsere Mutter es nicht sah, stahlen wir den Löffel aus der Dose. In seiner grauschwarzen Tiefe konnten wir manchmal unsere Augen erblicken. Einmal fiel das Auge meines Zwillingsbruders in die Mehldose, purzelte irgendwie in den Bleilöffel. In dem Moment kam unsere Mutter herein. Wir hatten Angst vor ihr, weshalb wir die Dose rasch an ihren Platz zurückstellten. Wir taten, als spielten wir Verstecken. Mein Zwillingsbruder kroch unter die Kommode, das Gesicht dem Fußboden zugewandt. So konnte unsere Mutter nicht sehen, dass sein linkes Auge versehentlich in die Mehldose gefallen war, neben den Bleilöffel. Etwas anderes fiel uns nicht ein, und ich zählte unablässig, damit die Zeit verging. Wir wagten unserer Mutter nicht zu erzählen, was passiert war, sie wurde immer wütend, wenn einer von uns irgendeinen Körperteil verloren hatte. Dann bekam sie Panik und einen hysterischen Anfall. Manchmal fiel sie sogar in Ohnmacht. Wir wollten nicht, dass sie sich umsonst aufregte. Sie suchte in der Truhe nach etwas, es dauerte länger. Ich zählte und wusste gar nicht mehr, wie lange ich noch zählen sollte. Dann aber fand sie plötzlich, was sie suchte. Oder zumindest vermute ich das, weil sie plötzlich etwas in der Hand hatte und aus dem Zimmer ging. Sofort holten wir die Dose hervor, bliesen das am Augapfel haftende Mehl ab, und ich half meinem Zwillingsbruder, sein linkes Auge wieder einzusetzen. Um mich nicht zu erschrecken, hielt er dabei sein rechtes Auge geschlossen.

Ich fragte ihn, ob es auch schon andere Male herausgefallen war.

Ja. Aber du verrätst es unserer Mutter nicht, so flehte er mich an und begann zu jaulen wie Hunde, die ahnen, dass sie Prügel bekommen. Ich sah, dass seine Hose nass war und ein dünnes gelbes Rinnsal an seinem linken Schenkel zu seiner Sandale hinablief. Erst jetzt erbarmte ich mich seiner und sagte, natürlich werde ich es nicht verraten, wenn auch du mich nicht anschwärzt …

Einmal, sagte er, doch ich drehte mich im Bett einfach zur Seite. Es war Morgen, und ich betrachtete durchs Fenster die Zaunkönige auf den Bäumen. Vielleicht habe ich meine Augen überanstrengt. Ich weiß nicht, warum, erwiderte mein Zwillingsbruder.

Überanstrenge niemals deine Augen, und nimm es nicht heraus, sagte ich zu ihm, denn dann wird es locker und kann jederzeit herausfallen. Und überhaupt: Es ist verboten, es mit schmutzigen Händen anzufassen, doch das wirst du wissen.

Es ist, wie man es bei einem Zwillingsbruder erwartet: wer ihn kennt, glaubt, ich sei es. In jeder Geschichte sind wir beide anwesend. Wenn ihm meine Bekannten auf der Straße begegnen, rufen sie ihm laut zu. Sie begrüßen ihn und reden mit ihm, als setzten sie eine begonnene Unterhaltung fort. Mein Zwillingsbruder kennt das schon und will sie nicht enttäuschen. Deshalb tut er so, als sei er ich.

Das verunsichert mich, und ich weiß manchmal selbst nicht, ob nicht ich mein Zwillingsbruder bin, denn auch mir widerfahren diese Dinge Tag für Tag. Ich weiß nicht, wer diejenigen sind, die alle naselang auf mich zutreten und mit mir eine verworrene Geschichte klären wollen, mich an meine alten und uneingelösten Versprechen erinnern. Zwar habe ich mich an solche Belästigungen gewöhnt, dennoch überrascht und irritiert es mich jedesmal. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen mich derartige Spitzbubenstreiche, bei denen ich so tat, als verstünde ich alles, amüsierten. Heute lässt mich all das eher gereizt reagieren. Und da ich nur noch vage Erinnerungen an meinen Zwillingsbruder habe, der mir in einem der Kriege meiner Kindheit entrissen wurde, ich weiß gar nicht mehr, ob infolge der Neuordnung der Grenzen oder irgendeiner Internierung, erinnere ich mich zunehmend schwächer an ihn. Manchmal bin ich mir sogar unsicher, ob er tatsächlich existiert hat oder nur die Leute in meinem Dorf mich das haben glauben lassen.