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  Dagmar Petrick– Mit Gott im Kino | 25 Filmandachten– SCM R.Brockhaus

SCM | Stiftung Christliche Medien

ISBN 978-3-417-22716-1 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26574-3 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© 2014 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Bodenborn 43 · 58452 Witten

Die Bibeltexte sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel,
© 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten

Weiter wurden verwendet:
Elberfelder Bibel 2006,
© 2006 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Witten (ELB)

Umschlaggestaltung: Sebastian Reichardt, Herrenberg

Inhalt

Vorspann: Damit wir uns nichts einbilden

Einführung: Gottesbegegnungen im Lichtspielhaus

1. Wer Gott gehorcht, verändert die Welt: Evan Allmächtig

2. Zu Großem berufen: Billy Elliot – I will dance

3. Aufbruch ohne Navi: Vaya con dios. Und führe uns in Versuchung

4. Anhalten und Hände falten – Hören in der Stille: Wer früher stirbt, ist länger tot

5. Alles beginnt mit dem ersten Schritt: Italienisch für Anfänger

6. Was bleibt, wenn alles zerbricht: Wie auch wir vergeben

7. Einer schreibt das Drehbuch: Die Truman Show

8. Schutzraum für wunde Punkte: Blind Side – die große Chance

9. Wende im Verborgenen: Das Leben der Anderen

10. Gott in den Grenzen spüren: Zeiten des Aufruhrs

11. »Ich hebe dich auf!« – eine Einladung zum Heilwerden: Wie im Himmel

12. Mittendrin und doch woanders: Horton hört ein Hu

13. In der Spur von Gnade und Barmherzigkeit: Fahrraddiebe

14. Widerspenstiges Dennoch – Hoffnung, die im Dunkeln pulst: Die Verurteilten

15. Freigeliebt – und auf einmal färbt die Welt sich bunt: Chocolat – ein kleiner Biss genügt

16. Leben mit dem Löwen: Die Chroniken von Narnia – Der König von Narnia

17. Neuanfang auf Knien – Wenn Totgesagte aufrecht gehen Dead Man Walking – Sein letzter Gang

18. Zwischen Himmel und Erde – vom Glanz, ein Mensch zu sein: Stadt der Engel

19. Ohne Panzer gegen Riesen kämpfen: Erin Brockovich

20. Aus Fremden werden Freunde – hineingeholt in eine neue Familie: Ice Age

21. Abschied vom giftigen Gott: Johnny – Jeder Mensch hat eine Mission

22. Worte, die zum Leben taugen: Big Fish

23. Wissen, was zählt: Gran Torino

24. Wenn Gott schreibt – an jedem Tag ein Liebesbrief: e-m@il für Dich

25. Dankbar stirbt, wer dankbar lebt: Das Beste kommt zum Schluss

Film ab in der Gruppe: Sieben Hilfen und eine Randbemerkung

Kino in der Kirche: Ein Gespräch

Kurz und knapp: Die Filme von A–Z im Überblick

Abspann: Im Dunkeln

Credits: Vielen Dank!

Filmrolle

Vorspann: Damit wir uns nichts einbilden

Eigentlich bin ich Filmwissenschaftlerin. Als solche habe ich gelernt, Filme zu analysieren. Sie zu beurteilen nach Kameraführung, Einstellungsgrößen, Schnittgeschwindigkeit, nach Licht und Ton. Ich kenne suspense in den Filmen Alfred Hitchcocks, weiß, was die Farben bei Michelangelo Antonioni bedeuten und wie Sam Peckinpah die Zeitlupe in seinen Western eingesetzt hat.

Mit den Mitteln hehrer Analyse hielt ich mir den Film jahrelang vom Leib, der mir nichtsdestotrotz unvermindert auf die Pelle rückte. Denn machen wir uns nichts vor: Filme berühren – sogar Wissenschaftlerinnen, und inzwischen habe ich den Eindruck, dass sie nichts weiter wollen als genau das.

Wenn wir bedenken, woher das unscheinbare Wörtchen Film stammt, verwundert das allerdings wenig. Film wurzelt in der germanischen Wortgruppe um Fell und bedeutet Häutchen. Gemeint ist der dünne Streifen Zelluloid. Ein Film wäre demnach – wie unsere Haut – Kontakt- und Nahtstelle zugleich, Grenze wie auch Berührungspunkt, an dem sich Inneres wie Äußeres verbindet.

Das Wort Kinematografie wiederum (von dem uns heute, mundfaul geworden, nur das Kino bleibt) stammt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus den Worten kinema, Bewegung, und grafie, aufzeichnen. Das Kino besteht aus aufgezeichneten, in Bewegung versetzten Bildern, die freilich wirkungsvoll auch uns, das Publikum, bewegen.

Wer wollte anderes behaupten? Filme begeistern und entgeistern, sie verstören und empören, bringen zum Lachen, zum Heulen, drücken uns in den Sessel, reißen uns von den Stühlen, machen gute Laune, machen schlechte Laune und bisweilen sogar Beine.

So wie das Kino voller Bewegung steckt, dient dieses Buch besonders jenen Menschen, die sich gern bewegen lassen, die unterwegs sind und sich Fragen stellen, die wachsen und lernen wollen – genau wie ich!

Bewusst habe ich deshalb mein Ich hineingewoben in die Texte – damit niemand denkt, es handele sich dabei um Unumstößliches, oder sie gar für Belehrungen hält. Vielmehr verhält es sich so: Wir sind gemeinsam unterwegs, Sie und ich, wie Wanderer, die ein Andachtsbuch in Händen halten, das am ehesten einer Karte gleicht: Wir können darin lesen und doch entscheiden wir eigenständig, wo wir langgehen möchten.

Als ein Buch mit Andachten führt es uns letztlich, so hoffe ich, zu dem, was das Herzstück einer Andacht ausmacht: dass wir Gottes Wesen achtsam, das heißt behutsam mit uns selbst und anderen, bedenken und sich das, was wir vernehmen, leise in uns senkt. Vielleicht rutscht es einmal auch in unsere Hände und Füße, wer weiß, und dann hätte uns das Kino wahrlich Beine gemacht!

Aber das ist nicht das Entscheidende! Dürfte ich mir etwas wünschen, wäre es Folgendes: Am Ende allen Tuns und Machens, allen Lesens und Begrübelns reden wir mit Gott selbst wie Kinder oder Freunde, vertrauensvoll und unverstellt, weil wir vor allen Dingen das Eine vernommen, gesehen und gehört haben: Gott liebt uns, der Höchste, dem alle Ehre gebührt.

Pfronten im Allgäu, Juli 2013

Filmrolle

Einführung: Gottesbegegnungen im Lichtspielhaus

»Husch, nun aber fort und das Licht aus!« Der Priester scheucht die Putzhilfe aus dem Saal und versinkt, als der Filmprojektor surrend anspringt und die Bilder im Dunkeln aufflackern, tief und immer tiefer im Sessel. Der ganze Saal des Cinema Paradiso gehört jetzt ihm. Denn die besondere Vorschau, eine Kirchenpreview gewissermaßen, dient dazu, all jene Szenen aufzuspüren, die seine Gemeinde in Versuchung führen könnten; vor allem Küsse gehen gar nicht … Der Priester lächelt. Er seufzt und schluckt. Unverkennbar hat das Geschehen auf der Leinwand auch ihn erfasst, bis die Lippen der beiden Liebenden einander näherrücken. Und näher. Schon zucken die Finger um das Glöckchen, das der Priester in Händen hält, und dann bimmelt er und BIMMELT.

In seiner Kabine oben reißt Alfredo, der Vorführer, einen Verleihschein vom Haken, er klappt die Trommel auf, in der die Filmspule strudelt, und stopft den Zettel zwischen das Zelluloid, wo schon eine Menge anderer Schnipsel ihre Kreise ziehen. Abends dann, als der Kinosaal aus allen Nähten platzt, wird es just an jenen Stellen peng! machen, an denen doch ein Kuss begeistern sollte. »Zwanzig Jahre gehe ich ins Kino und noch nie habe ich einen Kuss gesehen!«, empört sich ein Mann, und ein anderer knurrt gleich mit: »Ja, langsam reicht’s!«

Bilder, die bewegen

Filme bewegen Menschen. Und sie strömen herbei – in Giuseppe Tornatores Cinema Paradiso (Italien/Frankreich 1988) allabendlich – um im Kino ihr eigenes Leben gespiegelt zu sehen: Lachen wie Weinen, Streiten wie Lieben und ihre Hoffnungen und Träume gleich mit, sodass im Widerschein der Geschichten zudem die Fragen aufflammen, die das Dasein an uns stellt: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Der Philosoph Immanuel Kant hat das einst so ausgedrückt, lange bevor die Bilder laufen lernten.

Das Geschick, Tieferliegendes in Geschichten sichtbar zu machen, kennen wir auch aus den Gleichnissen, die Jesus erzählte und die wie Perlen in unseren Bibeln funkeln.

Jesus liebte Bilder! In seinen Reden von verlorenen Schafen und verschwundenen Münzen, vom Teigkneten, Säen und Festefeiern sollte seinen Zuhörern mitten im Alltag etwas vom Reich Gottes aufblitzen, das »unter euch« ist, aber nicht so, dass man es ergreifen könnte (Lukas 17,20f).

Nicht immer verstanden die Leute allerdings, was Jesus ihnen damit sagen wollte!

»Das habe ich euch in Bildern gesagt«, tröstet Jesus seine Jünger, deren Frage er just mit einer Bildrede beantwortet hatte! »Es kommt die Zeit, dass ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündige von meinem Vater« (Johannes 16,25).

Bilder bewegen. Aber sie verunsichern auch, als ahnten wir, dass hier mehr zu holen sei oder als fürchteten wir ihren Einfluss. Und dann mag es geschehen, dass auch wir, wie der Priester, unsere Merkzettel an Filmrollen heften und alles verbannen, von dem wir denken, es dürfe nicht sein (obwohl es zweifelsohne dennoch ist).

Ob der Argwohn, den mancher solcherart dem Kino entgegenschleudert, von jenem Wort herrührt, das Paulus einst den Römern schrieb (Römer 10,17), dass der Glauben nämlich »durch das Hören« komme?

Obwohl wir auch den Sinn lesen sollten. Denn Paulus wünschte sich, dass die frohe Botschaft von Jesus Christus überall gepredigt, vor allen Dingen aber vernommen würde – weshalb doch zu fragen bleibt, ob er heutzutage nicht ebenfalls zu Camcorder und Super-8-Kamera greifen würde, damit von Jesus weltweit obendrein zu sehen sei?

Wie dem auch sei: Die Sache Jesu kommt sowieso mit gänzlich anderen Tönen ins Rollen.

Ein Evangelium der Bilder

»Kommt mit, dann werdet ihr es sehen!«, antwortete Jesus denen, die mehr von ihm erfahren wollten (Johannes 1,39). Prompt lockte Philippus, einer der ersten, die Jesus folgten, Nathanael, der unter dem Feigenbaum döste, mit ähnlichen Worten: »Komm und sieh!« (Johannes 1,46). Und wozu anders lädt dies ein, als sich selbst zu überzeugen, sich ein Bild zu machen, von dem, der ruft, um dann freilich auch mit ihm zu leben?

Für die Dichter der Bibel war es jedenfalls geläufig, von Gott in Bildern zu erzählen. Gott selbst beschenkte sie schließlich mit der Gabe, innerlich Geschautes in Worte zu fassen. Also berichteten sie, Gott sei wie ein Felsen (und wir ahnen, er gäbe uns Halt) und nannten ihn Licht, Feuer, König und Burg.

Auch Jesus gebrauchte Bilder, wenn er von sich sprach, und wurde zur Tür, zum Brot, zum Licht, zum Hirten, zum Weinstock für uns. Nicht, damit wir ihn unverrückbar festlegten, sondern damit wir nun im Bilde seien über unsere Beziehung zu ihm: Bilder, die uns Beine machen – fort von den eigenen Vorstellungen, hin zu Gott.

Aber darf das Kino das – uns dermaßen bewegen, dass uns mitten in einem Film etwas aufscheint über uns selbst, über Gott und unsere Beziehung zu ihm? Kurzum: Würde Jesus mit ins Lichtspielhaus gehen, und was flüsterte er uns dabei wohl ins Ohr?

Freilich, ich kenne manchen, der diese Fragen entschieden mit Nein! beantwortet.

Kleiner Glaube, große Angst und ein noch größerer Gott

Ich bin neunzehn, als ich von zu Hause ausziehe. In der Stadt will ich Filmwissenschaften studieren, um einmal eine kluge Journalistin zu werden (Gott schreibt Lebenspfade bisweilen anders, das wissen wir, und also bin ich weder Journalistin noch besonders klug geworden). Zuvor aber erhalte ich eine Einladung.

Jan und Vera haben schon vier Kinder, ein fünfter Sprössling ist unterwegs. Die beiden kommen mir unendlich alt vor, lebensweise eben; ich fühle mich geehrt! Doch wie wir einander gegenübersitzen, während Nüsse und Rosinen vor uns auf dem Tisch stehen und der Früchtetee rot in den Tassen dampft, erklärt mir Jan, denn Vera schweigt und nickt zu alledem, dass ich auf keinen Fall Film studieren könne. Es verstoße gegen die Regeln des Glaubens, sämtliche Gebote und Gottes Willen sowieso, ob ich denn nicht wüsste, was in meiner Bibel stünde? »Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist!« (Kolosser 3,2). Denn der Film, wie jede Art von Kunst, sei eitel – sagt Jan und sieht mich an mit einem Blick, in dem ich Mitleid und Bedauern lese – und werde mich wegziehen von der Quelle des Lebens, von Gott, dem einzig unser Sehnen und Verlangen gebührt; ob ich das denn wirklich wolle?

Erschüttert schüttele ich den Kopf.

Und studierte schließlich doch.

Aber wenn ich es recht bedenke, habe ich Jans Worte lange begrübelt. Und während all der Jahre, in denen ich über Filmbilder nachsann, solche, die der Priester mit Schnipseln beklebt hätte, und andere, weniger verdächtige, war es mir, als hätten sie sich wie ein Dorn hineingeschoben zwischen meinen Glauben und das, was mich anrührte und mich auf erstaunliche Weise belebte. Und zwar so wie – darf ich es gestehen? – kaum ein Gottesdienst! Als hätte ich jedes Mal, wenn ich ein Kino betrat, Gott am Kartenschalter abgeben müssen, nur um ihn hinterher wieder einzusammeln wie einen auf der Gasse vergessenen Regenschirm.

Aber hatte Gott wirklich draußen gewartet? Oder verhielt es sich nicht vielmehr so: Mein Glaube fasste nicht, was ich im Dunkeln sah. Und also schrumpfte er. Er wurde kleiner als das Kino und kleiner als das Leben, was nun wirklich verwundert, wo doch Jesus selbst das Leben ist (Johannes 11,25). Wie hatte mir das bloß entfallen können?

Und deshalb frage ich heute, mehr als zwanzig Jahre nachdem mich Jan in seinem Wohnzimmer belehrte:

Hatte er recht?

Oder hatte er Angst?

Angst, etwas falsch zu machen und einmal nicht untadelig dazustehen. Angst, sich am Kino anzustecken, als trüge es ein Virus und er könnte erkranken oder er würde sich daran beschmutzen, unwiederbringlich, wie die Pechmarie. Angst, letztlich, vor dem, was Christen manchmal »die Welt« nennen, aber oft genug doch nur das Leben meint mit allem, was es mit sich bringt: Gutes wie Schlechtes, Schönes wie vermeintlich Hässliches.

»Aber wenn ihr solche Leute meiden wolltet, müsstet ihr ja die Welt verlassen!« (1. Korinther 5,10b), schrieb Paulus den Korinthern und wischte damit unmissverständlich ein Missverständnis beiseite, dem schon die ersten Christen aufgesessen waren. »Die Welt räumen«, übersetzte Martin Luther in seiner unverkennbar anschaulichen Sprache – und sofort denke ich an einen Schneepflug, der die weiße Pracht, auf die die Kinder lange gewartet haben, pflichteifrig zur Stadt herausbrummt.

Was aber geschähe, wenn alle Christen aus der Welt auszögen? Wo blieben dann »das Salz der Erde« und »das Licht der Welt« (Matthäus 5,13f)?

Leben in der Welt

Nicht VON der Welt, sagte Jesus schließlich, sind die Menschen, die ihm folgen, wohl aber IN der Welt (Johannes 15,19b). Jesus selbst stellt sie ja dort hin, damit sie – mitten in der Welt – ihm folgen. »Ich bitte dich nicht, dass du sie aus der Welt herausnimmst«, betete Jesus zu Gott, dem Vater, »sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie gehören genauso wenig zur Welt wie ich. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so sende ich sie in die Welt« (Johannes 17,15.16.18).

Und da stecken wir nun, mitten im Getümmel, wobei uns nicht die eigene Unfehlbarkeit vor Augen stehen sollte und auch nicht die Angst, sondern Jesus allein.

Denn letztlich gilt – und wäre es auch das Einzige, das uns im Gedächtnis haften bliebe, wenn unsere Gehirne löchrig würden, genügte es schon: Gott LIEBT seine Welt – und zwar so, »dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat« (Johannes 3,16).

Wie könnten wir da weniger tun und Gottes Welt verachten oder befürchten, es gäbe einen Ort, den Gottes Liebe nicht erreichen könnte – wo doch Jesus selbst den Toten gepredigt hat, damit auch sie von ihm erführen (1. Petrus 3,19f)?

»Bin ich nur ein Gott, der in der Nähe ist?«, spricht der Herr. »Bin ich nicht auch ein Gott in der Ferne? Gibt es Schlupfwinkel, in denen sich ein Mensch verbergen könnte, sodass es mir nicht mehr möglich wäre, ihn zu sehen? Bin ich denn nicht überall, fülle ich nicht den Himmel und die Erde aus?« (Jeremia 23,23f).

Wenn wir das aber wirklich glaubten, nicht allein mit den Lippen, sondern mit dem Herzen, bräuchten wir bloß unsere Augen und Ohren zu spitzen und wir würden Gott tatsächlich überall entdecken, auch im Kino, wo uns ein Licht aufgeht oder es dunkel bleibt – je nachdem. Und wenn es Jesus ist, der plötzlich neben uns sitzt, was machen wir dann?

»Die Erde ist von seiner Herrlichkeit erfüllt!«, bekannte der Prophet Jesaja vor zweitausendsiebenhundertfünfzig Jahren (Jesaja 6,3).

Wäre es nicht schön, wir würden das ebenso sehen?

Wer Gott gehorcht, verändert die Welt:

Evan Allmächtig

(Regie: Tom Shadyac, USA 2007, 90 Minuten, FSK 6)

Evan Allmächtig

Evan-Allmaechtig, Universal

Jeden Morgen rasiert sich Evan Baxter (Steve Carell), bis die Wangen glänzen, zupft die Haare aus der Nase und klopft sich mit Selbstbestätigungen tagtauglich: »Ich bin erfolgreich, ich sehe gut aus …« Evan möchte die Welt verändern. Mit diesem Versprechen ist er im Wahlkampf angetreten – ein energiegeladener, aufstrebender Politiker, von dem sich die Menschen einiges versprechen. Nun sitzt er, hoppla, hier komme ich!, als Abgeordneter im Washingtoner Kapitol. Doch schon prallen Evans hehre Vorsätze auf die harten Gegebenheiten des Politikalltags.

Ein geschäftshungriger Senator (John Goodman) möchte Evan für seine Interessen gewinnen und knallt ihm einen zwielichtigen Gesetzesentwurf auf den Schreibtisch: »Unterschreiben Sie, am besten sofort!« Zunehmend versinkt Evan unter immer neuen Aktenbergen, während zu Hause seine Frau (Lauren Graham) und die drei Jungs auf ihn warten. Doch der versprochene Familienausflug scheitert ein ums andere Mal an Vaters wachsender To-do-Liste. Zumal Evan, als er früh zur Arbeit stürmt, über einen Stapel Bauholz stolpert. Obendrauf sitzt ein weiß gekleideter Mann (Morgan Freeman) und lächelt ihn an. »Guten Morgen, Evan. Ich bin Gott und ich möchte, dass du eine Arche für mich baust!« Das passt nicht in Evans Pläne, und doch hat er sich den Schlamassel selbst eingebrockt.

Mit einem schlichten Gebet fing es an. »Schatz«, flüsterte ihm seine Frau in der ersten Nacht im neuen Haus zu, denn als Abgeordneter muss man umziehen, »du willst die Welt verändern und betest nicht? An deiner Stelle würde ich alle Hilfe annehmen, die ich kriegen könnte!« Und weil seine Frau recht haben könnte, kniete Evan sich vors Bett. »Hallo, Gott. Danke für das neue Haus. Ich bin jetzt Senator. Hilf mir. Bitte. Danke!« Gott hört prompt. Der Archebau ist seine Antwort. Schließlich will auch Gott die Welt verändern, obgleich anders, als es Evan annimmt. Denn wo Evan auf seine Pläne und scheinbar Naheliegendes stiert – wie auf die Akten auf dem Schreibtisch, seine Verantwortung als Politiker, seine Karriere, und und und –, sieht Gott weiter. Viel weiter. Er weiß, dass eine Katastrophe auf Washington zurollt, eine Art zweite Sintflut, die der geschäftshungrige Senator mit dem verpfuschten Bau des Staudamms verschuldet hat.

Doch Evan hat Wichtigeres zu tun. Und ohnehin erscheint ihm der Bau eines Schiffes zwei Nummern zu groß. Da aber lacht Gott herzhaft. »Ja, das höre ich öfter«, sagt er, »die Menschen wollen die Welt verändern, aber sie wissen nicht, wo sie anfangen sollen. Willst du wissen, wie man die Welt verändert? Sei aufopfernd, redlich und klug!« Und dabei stellt Gott einem streunenden Hund einen Napf mit Wasser hin. Das liegt nun wirklich nahe: Die Welt verbessern fängt dort an, wo die Not sitzt.

Doch Evan sträubt sich weiterhin beharrlich. Was sollen denn die anderen von ihm denken, seine Kollegen, die Familie?

Evan ist ein zappelnder Auserkorener, dem störrischen Propheten Jona nicht unähnlich, den Gott allerdings beharrlich und nicht gerade zimperlich an das Werk zurückzieht, zu dem er ihn gerufen hat. Denn wer die Welt verändern will, verändert am besten erst einmal sich selbst. Jeden Morgen warten fortan neue Überraschungen auf Evan, sobald er in den Spiegel blickt: Aus Kinn und Wangen sprießt ein Bart, den selbst die eifrigste Rasur nicht entfernt. Die Haare auf dem Kopf wachsen ebenso fix. Bald hängt statt dem schicken Anzug ein wallender Mantel am Schrank, daran klebt ein Zettel: »Ich dachte, der wäre gemütlicher! Gott.«

Und so lernt Evan vor allen Dingen eines, je mehr ihn Gott seiner herkömmlichen Stützen beraubt: Evan braucht Gott, und also beginnt er, Gott zu vertrauen, ihm zu gehorchen und ihn um Hilfe zu bitten. Denn auch wenn Evan vor Tatendrang strotzt, allmächtig ist er keineswegs; insofern lockt der Filmtitel auf eine falsche Fährte.

Und endlich, nach langem Warten und viel Spott, trifft ein, was Gott vorhergesagt hat. Aber anders, als Evan dachte. Nicht von oben, nicht vom Himmel kommt ein Regen, der alles wegschwemmt, vielmehr bricht der Staudamm. Die Menschen aber, die zuvor über Evans göttliches Bauprojekt lachten, finden nun Zuflucht in der Arche.

Bunt biegt sich am Ende ein Regenbogen über Washingtons Kapitol. Eine Taube flattert in die Luft, wie schon zu Beginn des Films. Weil ein Mensch Gott vertraute und im Glauben an ihn mutige, wenn auch einsame Schritte ging, schließt sich der Kreis, ein Reigen der Bewahrung und Rettung. Gott, der das Leben liebt, erlässt ein elftes Gebot: »Du sollst deinen Tanz tanzen!« Und so wiegen sie sich miteinander im Takt: Gott und Evan – wobei die Freude von der Leinwand funkelt!

Kann es sein, dass es uns manchmal wie Evan geht? Da beten wir: »Herr, hilf mir, die Welt zu verändern!« und wissen prompt nicht, was wir tun sollen, wenn uns die Aufgaben vor die Füße plumpsen. Wir wollen es überall und jedem recht machen, auf der Arbeit, in der Familie, in der Gemeinde. Doch was will Gott von uns? In Epheser 2,10 lesen wir: »Wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor vorbereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.« Das ist ein Versprechen, das Gott uns gibt; darauf dürfen wir uns berufen!

Sicherlich, es ist ein großes Werk, an das Gott Evan stellt. Aber es ist ein noch viel größerer Gott, der Evan dabei hilft. Gott will ja nicht, dass wir alleine wirbeln. Wir dürfen ihn um seinen Beistand und um seine Weisheit bitten, mit der er uns zeigt, was ansteht. »Ich will dir den Weg zeigen, den du gehen sollst. Ich will dir raten und dich behüten«, heißt es in Psalm 32,8.

Mag sein, dass wir einsame Wege beschreiten, wenn wir auf diese Weise nachfolgen. Vielleicht kommen wir uns gar wie die größten Trottel auf Erden vor. Wir erzählen dem Nachbarn, dass wir eine Macke in sein Auto gestoßen haben, als wir die Fahrertüre allzu schwungvoll öffneten. Wir kopieren auch nicht unseren Privatkram auf der Arbeit, obwohl alle anderen das machen. Und wir bekommen trotzdem Kinder, auch wenn es sich rein rechnerisch nicht lohnt. Nicht jeden ruft Gott zum Bau einer Arche, obwohl es uns manchmal fast so erscheinen mag, wenn wir unser Lebensschiffchen durch unruhiges Fahrwasser geleiten.

Aber es gibt auch Zeiten, da will es uns durchaus nicht gelingen, Gottes Willen zu erkennen, so sehr wir auch strampeln. Wir wollen Großes tun, die Welt verändern und sehen nicht das Naheliegende, das Gott uns vor die Haustür legt, damit wir hier ein Segen sind.

Heute ist so ein Tag. Unter unzähligen Handgriffen zerkrümelt er mir ins Klein-Klein. Die Kinder sind krank, alle vier auf einmal. Ich putze triefende Nasen, koche Tee, laufe von einem Zimmer ins andere, schüttele Decken auf, erzähle eine Geschichte. Und noch eine. In der Küche stapelt sich das Geschirr, die Wäsche türmt sich im Keller, die Stapel auf dem Schreibtisch wachsen schon beim Zusehen. Da bohrt der Hund seine Nase in meine Wade und guckt, als wolle er fragen: Und wann gehst du mit mir Gassi?

Meine hehren Pläne für diesen Tag haben sich in Luft aufgelöst. In nichts. In nichts? Ist es wirklich nichts, wenn wir ein Kind trösten, eine hungrige Meute versorgen, die Kollegin freundlich grüßen und einander mit voll bepackten Taschen die Tür im Kaufhaus aufhalten?

»Was ihr für einen der geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan!«, sagte Jesus (Matthäus 25,40). »Stell dem Hund Wasser hin!«, sagt Gott zu Evan.

Ich überlege: Vielleicht ist das scheinbar Unscheinbare gar nicht so unscheinbar bei Gott? Als die Jünger über ihren Platz im Himmel stritten, stellte Jesus ein Kind in ihre Mitte. »Das Reich Gottes«, sagte er, »gehört Menschen wie ihnen« (Markus 10,14). Die Jünger fassten es nicht, aber Jesus setzte noch eins drauf. »Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf!« (Matthäus 18,5). Na bitte. Da weiß ich wieder, dass ich eine ziemlich zweifelhafte Sicht von dem habe, was Gott von mir will. Wie Evan möchte ich Gewichtiges bewirken und versäume das Wenige, das ich jetzt tun kann. Denn auch viele kleine Schritte machen einen langen Weg, und wer im Kleinen segnet, verändert, wo er steht, die Welt.

Es ist tröstlich, dass Gott so langmütig mit seinem zappelnden Helden umgeht. Evan darf lernen. Er darf Fehler machen und von vorne anfangen. Gott hat Geduld mit uns! Sobald wir ihn aber ernsthaft um seine Führung bitten, um dann im Vertrauen auf ihn die Dinge zu tun, die er von uns will und seien sie noch so bescheiden, geschieht etwas Erstaunliches: Wir merken, dass all das vielleicht gar nicht mal so schwer ist. Wir verbiegen uns nicht länger. Im Gegenteil: Wir tanzen fröhlich unseren Tanz – und Gott tanzt mit.

Fragen

• Was sind die guten Werke, die Gott für mich vorbereitet hat, damit ich darin wandeln soll?

• Wie lauten meine Zerreißproben zwischen Arbeit, Familie, Ehe und Glauben?

• Rechne ich mit Gottes Hilfe in meinem Leben, in der Familie, auf der Arbeit, im täglichen Klein-Klein? Bitte ich darum? Oder klammere ich Gott aus, weil ich denke, meine Anliegen seien zu gering für solch einen großen Gott – es ist ja keine Arche, an der ich baue?

Mein Gebet

Guter Gott, mein Schöpfer und Bewahrer. Du hast mich geschaffen zu guten Werken, die du in Christus bereits vorbereitet hast. Ich will diese Werke suchen und sie leben. Bitte leite mich dabei! Hilf mir, die vielen kleinen Dinge, die mir vor die Hände fallen und mir aber mitunter nutzlos erscheinen, nicht gering zu schätzen. Lass sie mich mit deinen Augen sehen und mit einem liebenden Herzen ausführen. Amen.

Für Hand und Fuß

In Micha 6,8 lesen wir: »Es wurde dir, Mensch, doch schon längst gesagt, was gut ist und wie Gott möchte, dass du leben sollst!« Und in 5. Mose 30,14 heißt es: »Seine Botschaft ist euch ganz nah; sie liegt auf euren Lippen und eurem Herzen, sodass ihr sie befolgen könnt.« Gestatten Sie sich, in dieser Woche die kleinen, naheliegenden Schritte zu entdecken und, auch wenn es Ihnen wenig erscheint, Gesten der Freundlichkeit zu verschenken, mehr braucht es nicht. Fehlt dem Hund Wasser? Füllen Sie seinen Napf auf! Der Nachbar hat sich das Bein gebrochen? Kaufen Sie für ihn mit ein! Und der Kollegin, die so müde dreinguckt, stellen Sie eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch.

Weitersehen

• Gott bewahrt den Überblick, das macht bereits die Anfangssequenz deutlich. Eine weiße Taube taucht, mit einem Ölzweig im Schnabel, durch die Wolken. Diese Aufsicht lässt uns schwindeln, sie verrät aber gleichzeitig, dass Gott die Welt mit anderen Augen ansieht, Augen, die weiter blicken als unsere.

• Evan Allmächtig erzählt die Geschichte von Noah und der Arche neu als Geschichte einer großen Gelegenheit. Eine beiläufig ausgeführte Geste genügt, auch mit ihr lässt sich die Welt verändern: »Sei aufrecht, redlich und klug«, sagt Gott. In der englischen Originalfassung heißt das: »one act of random kindness«. Aus den Anfangsbuchstaben lässt sich das englische Wort für Arche, ark, bilden; in der deutschen Fassung entfällt dieser Bezug.

• Immer wieder finden sich Anspielungen auf 1. Mose 6,14 – Gottes Auftrag an Noah, die Arche zu bauen: Evans Radiowecker, ein General Electric, klingelt jeden Morgen aufs Neue um 6 Uhr 14. Das Nummernschild seines Dienstwagens lautet GEN 614, und die Lieferung des Bauholzes erfolgt stets an die falsche Adresse: 614 statt 416.

Idee für einen gemeinsamen Filmabend

Wo haben wir einander Gutes getan und es nicht erkannt? Erzählen Sie sich davon! Ihnen fällt nichts ein? Dann überlegen Sie sich für die kommende Woche ein, zwei Dinge, mit denen Sie sich gegenseitig eine Freude bereiten können!

Zu Großem berufen:

Billy Elliot – I will dance

(Regie: Stephen Daldry, GB 2000, 110 Minuten, FSK 6)

 Billy Elliot– I will dance

Billy-Elliot, Universal

Eine Schallplattennadel kratzt über schwarzes Vinyl. Die ersten Takte erklingen: I was dancing when I was twelve. Schon verwandelt sich das Bett vor der grüngeblümten Tapete in ein Trampolin, und ein schlaksiger Junge, gerade mal elf Jahre alt, hebt ab, als wolle er davonfliegen.

Billy (Jamie Bell) bewegt sich für sein Leben gern, vor allen Dingen zu Musik. Das geht jedoch nur, wenn der große Bruder Tony (Jamie Draven), mit dem er sich das Zimmer teilt, weg ist, was in letzter Zeit häufig vorkommt, weil Tony streikt. Seit Margaret Thatcher 1984/85 die Kohleminen im Norden Englands schloss und einen ganzen Landstrich in Perspektivlosigkeit versenkte, kämpft Tony gemeinsam mit dem Vater (Gary Lewis) um den Erhalt ihrer Grube. Morgens ziehen sie los, um gemeinsam die Busse der Streikbrecher mit Eiern zu bewerfen und die Polizisten zu beschimpfen, die mit ihren Schilden die Straßenränder säumen.

Billy bleibt zu Hause. Er versorgt die altersschwache und immer auch ein wenig verwirrte Oma, kocht ihr Tee und röstet den Toast, bevor er zur Schule und danach zum Boxunterricht aufbricht. Die Fäustlinge hat er vom Vater bekommen; der wiederum hat sie von seinem Vater geerbt. So sollte es am besten ewig weitergehen.

Doch dann ziehen wegen des Streiks Mrs. Wilkinsons Ballett tanzende Mädchen zu den boxenden Jungs in die Gemeinschaftshalle um. Und Billy, ohne Sinn für Kinnhaken und Schwinger, linst verstohlen zur Stange hinüber, wo unter sanft säuselnden Klavierklängen zarte Mädchen ihre Beine schwingen.

»Du bist eine Schande für deine Familie!«, faucht der Trainer, als sich Billy, abgelenkt, k.o. schlagen lässt. Zur Strafe soll er nachboxen. Doch als die anderen Jungs die Halle verlassen haben, reiht Mrs. Wilkinson (Julie Walters) Billy, dessen Seitwärtsschielen ihr nicht entgangen ist, ohne große Umschweife in die Reihe der Tutu beröckten Miniballerinen ein. Denn die entschlossene Frau mit dem nie verglimmenden Zigarettenstummel im Mundwinkel hat in Billy längst das Talent erkannt, welches ihr selbst zu haben nicht vergönnt war. Sie will Billy fördern, am wirkungsvollsten wäre es, er würde sich an der Royal Ballett School in London bewerben. »Du wirst lernen, dich selbst auszudrücken!« – »Was für ein Selbst?«, fragt Billy, der von solchen Dingen nichts versteht. Aber in der Hosentasche knistert der hundertmal gelesene Brief der verstorbenen Mutter, in dem sie fleht: »Sei du selbst!« Und eine leise Ahnung von dem, was einmal sein könnte – würde Billy weitertanzen und üben –, schimmert auf, als sein Schatten ihm voraus in die Turnhalle fällt.

»Jungs tanzen nicht!«, knurrt der Vater, als er hinter Billys Geheimnis kommt. Billy wird doch wohl nicht schwul sein? Und nicht zuletzt ringt Billy mit sich selbst: »Tanzen fühlt sich mädchenhaft an!«, jammert er. »Benimm dich nicht wie eins!«, faucht Debbie (Nicola Blackwell), die Tochter der Lehrerin, zurück. Und recht hat sie, weil sich Billys Gaben nur entfalten, wenn er selbst sie gänzlich vorurteilslos annimmt.

Und also übt Billy weiter. Und noch einmal dreht er die Pirouette. Und abermals fällt er um dabei. Und rappelt sich auf. Ausgerechnet an Weihnachten aber, als der Vater entdeckt, dass Billy nach wie vor unverdrossen weitertanzt, stampft Billy entschieden mit dem Fuß auf und tanzt – vor dem Vater und zum ersten Mal einzig für sich selbst, mit einer Leidenschaft, die knisternd durch den Raum springt. Und nun schraubt er sich, indem er eine Pirouette nach der anderen dreht, nach vorne, bis er schließlich vor dem Vater steht, der ihm zuschaut mit großen, immer GRÖSSEREN Augen und Billy sieht, wie nie zuvor: Mein Kind, das eine wunderbare Gabe hat!

Okay, mögen wir jetzt sagen. Wie schön für Billy, dass er so ein großartiges, unverwechselbares Talent hatte. Sicherlich half ihm dies, seinem Leben eine klare Richtung zu geben und das Ziel, einmal ein großer Tänzer zu werden, nicht aus den Augen zu verlieren; auch wenn es sicherlich nicht einfach war, dorthin zu gelangen, das geben wir gern zu. Und was würden wir selbst nicht alles tun, wenn in uns etwas derartig Wunderbares läge!

Doch halt, wenn wir uns da bloß nicht täuschen!

»Ihr seid ein auserwähltes Volk. Ihr seid eine königliche Priesterschaft, Gottes heiliges Volk, sein persönliches Eigentum«, lesen wir in unserer Bibel (1. Petrus 2,9). Und ein paar Zeilen später heißt es: »Gott hat euch in seiner Gnade durch Jesus Christus zu seiner ewigen Herrlichkeit berufen« (1. Petrus 5,10). Das klingt nicht sonderlich bescheiden: Wir sind Mittler zwischen den Menschen und Gott – wie ein Priester. Und diese Berufung gilt nicht allein denen, die ihre mannigfaltigen Gaben nicht mehr zählen können, sondern einem jeden, der Christus folgt.

Da kann es uns schon im Bauch kribbeln, denn wir ahnen wohl, dass es etwas für unser Leben bedeuten könnte, für unseren Alltag, hier und jetzt. »Gott hat uns durch seine Herrlichkeit und Güte berufen! (2. Petrus 1,3). Strengt euch deshalb an (Luther übersetzte: So wendet alle Mühe an!), diese Zusagen Gottes in eurem Glauben zu leben!« (Vers 5). Aha, wussten wir es doch: Ein Leben des Berufenseins versumpft nicht im Alltäglichen. Also brechen wir auf, doch wohin?

Wir erinnern uns: Nachdem Mose die Israeliten aus Ägypten geführt hatte, steckten sie erst einmal fest. Sie irrten durch die Wüste und stolperten im Kreis. Gott versorgte sie zwar mit Manna, sodass es ihnen nicht wirklich an etwas fehlte, und doch fingen sie bald an zu maulen. In Ägypten waren sie unfrei gewesen und hatten nichts als Frondienste geleistet, aber jetzt sehnten sie sich nach der Regelmäßigkeit, mit der sich dort die Tische unter Fleisch und Melonen gebogen hatten. »Denkt nur an die vielen Fische, die wir in Ägypten ganz umsonst bekamen!« (4. Mose 11,5), jammerten sie. Statt einer Kaffeefahrt glich der Weg in die verheißene Freiheit eher einer ernüchternden Durststrecke, und es ist sehr wahrscheinlich, dass ihnen zudem der Wind Sand ins Gesicht blies.

Aber mal ehrlich: Wollen wir in Ägypten bleiben, im allseits Vertrauten, Geregelten, bei »Zwiebeln und Knoblauch«, weil uns die Fußsohlen schmerzen?

Oder wollen wir das Leben in seiner ganzen Fülle schmecken, wie es Christus dem verheißt, der ihm folgt (Johannes 10,10b)?

Nie werde ich den Tag vergessen! Ich bin acht und nehme beim traditionellen Sporttag unserer Schule am ersten Sechshundert-Meter-Lauf meines Lebens teil. Auf der Zielgerade traben wir, aufgereiht wie die Gänse, artig hintereinander her. Aber ich verspüre noch Kraft! Schon schere ich aus und will gerade an meinen Vorläuferinnen vorbeiziehen, als eine Hand ausklappt und mich zurück in die Reihe schiebt. »Überholen auf der Zielgerade gilt nicht!«, knurrt eine Stimme. Und so bleibe ich, wo ich bin, obwohl alles in mir brüllt: »Lauf!«

Warum habe ich mich zurückdrängen lassen? Vielleicht, weil ich dachte, das mache man halt so? Und doch bleibt es eine Tatsache: Ich hatte mich täuschen lassen und so – möglicherweise – um einen Sieg gebracht.

Wenn Paulus von seinem Leben als Christ erzählte, gebrauchte er ein ähnliches Bild. »Ich will nicht behaupten, ich hätte alles schon erreicht oder wäre vollkommen! Aber ich arbeite auf den Tag hin, an dem ich endlich alles sein werde, wozu Christus Jesus mich errettet und wofür er mich bestimmt hat. Nein, liebe Freunde, ich bin noch nicht alles, was ich sein sollte, aber ich setze meine ganze Kraft für dieses Ziel ein. Indem ich die Vergangenheit vergesse und auf das schaue, was vor mir liegt, versuche ich das Rennen durchzuhalten und den Preis zu gewinnen, für den Gott uns durch Christus Jesus bestimmt hat« (Philipper 3,12ff).

Sind wir schon, was wir sein sollen? Nein. Aber der Preis gilt uns allen, auch denen, die sich klein und unbedeutend vorkommen.

Wir könnten noch ein anderes Bild wählen.

Als unsere Kinder laufen lernten, taumelten sie aus den ausgespannten Armen meines Mannes in meine weit geöffneten. Und umgekehrt. Immer wieder plumpsten sie hin und immer wieder rappelten sie sich auf. Sie ließen sich durchaus nicht unterkriegen. Und welch Jubel erfüllte uns stolze Eltern, wenn sie auf ihren Wackelbeinen bei uns ankamen, und was für ein Glanz lag dann auf ihren Gesichtern!

Wohin laufen Sie? Und was treibt Sie dabei an?

Paulus nannte es: all das werden, wozu Christus Jesus mich errettet und wofür er mich bestimmt hat. Doch wie kann der einzigartige Glanz, den nur Sie verbreiten können, aus Ihnen herausstrahlen, wenn Sie ihn unter dem verstecken, was man immer schon getan hat?

Wenn die anderen also rufen: »Du sollst boxen!«, aber alles in Ihnen drängt: »Du sollst tanzen!« – was machen Sie dann? Könnte es sein, dass es an der Zeit ist, aus der Reihe zu tanzen?

Jesus wusste, dass uns dabei mulmig werden würde. Wir sind ja noch nicht da! Vielleicht hat er deshalb seine Zuhörer so oft dazu ermutigt, ihr Leben, wenn es von Gott durchdrungen wurde, nicht allein nach dem zu beurteilen, was man mit Händen wiegen kann. Im Gleichnis vom »winzigen Senfkorn« (Lukas 13,18f), das zu einem stattlichen Baum heranwächst, oder in der Geschichte vom Sauerteig (Lukas 13,20f), der allmählich den gesamten Teig durchdringt, machte er klar, dass manches reift, auch wenn wir es (noch) nicht sehen.

Erwarten uns Widerstände auf unserem Weg, unsere Berufung zu leben?

Gewiss.

Fallen wir dabei um?

Selbstverständlich, und nicht zu knapp.

Und DENNOCH machen wir weiter.

Die Griechen in Philippi verstanden, was Paulus ihnen sagen wollte, als er sein Leben mit einem Lauf verglich. Es war der Versuch, ihnen anhand eines Beispiels, das sie aus dem Alltag kannten (die Griechen liebten Sport!), klarzumachen, was Berufensein auch für sie bedeuten könnte. Billy Elliot pinselt uns ein anderes Gleichnis: Wir mögen uns im Kreis drehen und dabei umfallen. Und doch stehen wir auf und versuchen es erneut. Denn wir wissen, dass einer uns ansieht in Liebe: unser himmlischer Vater, vor dem wir eines Tages stehen werden.

Dann könnte es im Übrigen geschehen, dass uns all unser Mühen nicht länger wie eine Leibesübung, ein Boxring erscheint, sondern eher jenem Trampolin gleicht, auf dem Billy zu Beginn vergnügt herumhopste. Weil es Freude macht, das zu entdecken und auszudrücken, was Gott in uns hineingelegt hat.

Und deshalb endet der Film fast wie er begann: Jahre später tanzt Billy, erwachsen geworden. Doch diesmal in der Oper. Und erneut setzt er zu einem tollkühnen Sprung an, auf dessen Gipfelpunkt das Bild einfriert. Und die Augen seines Vaters strahlen – voller Staunen, voller Stolz.

Fragen

• Welches Bild ermutigt mich, das Leben zu leben, zu dem mich Christus bestimmt hat? Das Bild des Wettläufers, Billys Pirouetten oder das des Kindes, das in die Arme seiner Eltern stolpert?

• Was bremst mich auf diesem Weg? Was oder wer redet mir ein, ich sollte lieber etwas anderes tun?

• Wo habe ich den Eindruck, ich drehe mich im Kreis – wie Billy, als er seine Pirouetten übt? Könnte es sein, dass ich dennoch vorwärtskomme?

Mein Gebet

Lieber Herr, du rufst mich, all das zu werden, wofür du mich errettet und bestimmt hast. Ich wünschte, ich würde klar erkennen, was das ist! Wenn du heute deine Arme ausbreitest, will ich zu dir laufen, auch wenn ich dabei stolpere. Ich stehe wieder auf, denn du siehst mich in Liebe an. Amen.

Für Hand und Fuß

Manchmal herrscht in uns ein großes Durcheinander, und es fällt uns schwer, den nächsten Schritt zu erkennen. Machen Sie sich auf, so wie sich auch Billy in Bewegung setzt; gehen Sie spazieren! Schon der Kirchenvater Augustinus wusste: »Solvitur ambulando – es löst sich beim Laufen!« Im Gehen gewinnen wir neue Eindrücke, verschieben sich Ansichten, gerät Festgelegtes in Fluss. Hier können Sie Gott Fragen stellen und auf seine Antwort lauschen. Wenn Sie es einrichten können, gönnen Sie sich täglich solch eine Auszeit.

Weitersehen

• Die Farbe Grün taucht häufig in Daldrys Erstlingsfilm auf. Grün leuchtet die Tapete, vor der Billy hopst, grün ist seine Hose, ein grünes Hemd trägt zu Beginn auch der Vater. Je deutlicher sich jedoch abzeichnet, dass der Streik scheitern wird, desto augenscheinlicher verblasst die Farbe der Hoffnung.

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