image

Romana Ganzoni

Granada Grischun

Über dieses Buch

Ein Mädchen verliert mit sieben seinen einzigen Freund – und versinkt fortan in viel zu großen Gummistiefeln. Ein anderes wartet sehnsüchtig auf Schnee, denn seine Eltern haben ein Skigeschäft: Kein Schnee und sie sind verloren. Sommer heißt Freibad, und das gehört den Girls. Sie entdecken hier zum ersten Mal die Schönheit der Jungen. Wenn sie hingegen in der Turnstunde die stinkende Seraina quälen, überkommt sie die Lust an Gewalt.

Romana Ganzoni erzählt einmal poetisch, dann explosiv und immer überraschend von den Beben einer Kindheit im Engadin und den Nachbeben im Heute. Mit einer bildreichen, kraftvollen Sprache sticht sie in eine Zeit, in der die Welt am Bahnhof endet, Bäche und Kinder zusammengehören und die Menschheit sich in Katholiken und Protestanten aufteilt.

Manchmal entpuppen sich die Erzählungen auch als Hommage – an Herrn Baumann, mit dem man im Speisewagen eine Baumhütte baut. Oder an den Vater, der tanzen konnte wie ein Gott, wenn er »Öl am Hut« hatte, und der noch eine Rechnung offen hat, in Granada.

Romana Ganzoni

Granada Grischun

Erzählungen

image

Dieses Buch erscheint mit finanzieller Unterstützung von SWISSLOS/Kulturförderung, Kanton Graubünden, der Graubündner Kantonalbank und der Fondation Jan Michalski.

Der Verlag bedankt sich dafür.

Der Rotpunktverlag wird vom Schweizer Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2017 Rotpunktverlag, Zürich

Lektorat: Daniela Koch

Inhalt

Der Lippenstift

Die Gummistiefel

Granada Grischun

Xristina

Der Kanister

Der Schäferhund

Raketenglace

Die Seidenblume

Michel fährt

Alberto Juantorena

Mein Leben im Schnee

Im Ristorante

Halt auf Verlangen

Che confusiun!

Die Mädchen

Die Katze

Der Brandherd

Der Abgang

Der Puder

Herr Baumann

Der Lippenstift

Blumen sind wunderschön, sie blühen im Dickicht, verblühen, und niemand hat sie gesehen. Wir ahnen ihre Schönheit überall, wo es nicht schön ist, deshalb plagt uns das Hässliche besonders. Manche beruhigt das Hässliche, weil sie nicht an das Schöne glauben, sie trauen sich das Schöne nicht zu, Anna aber wollte immer ein Ostermädchen bleiben, deshalb zog sie sich die Lippen nach mit Rouge Allure, Nr. 14 Passion.

Während sie sich im Klappspiegel betrachtete, dachte sie an die rote Tulpe im Dickicht, die sie als Kind kurz vor Ostern entdeckt hatte. Ostern wurde damals mit bunten Zuckereiern gefeiert, die so selbstverständlich und willig in den Mund glitten, als führten sie ein zweites, besseres Leben auf der Zunge, die Zuckereier wollten in glücklicher Vollendung mit dem üppig fließenden Kinderspeichel vermischt werden, ihre Farbe auf der rosa Zunge lassen. Ostern wurde gefeiert mit dem mittelgroßen mittelteuren Konditoreihasen aus mittelbrauner Schokolade, seine Residenz war das Kartonnest, wie jedes Jahr, mit grasgrünen Kunststoffstreifen vollgestopft.

Die großen weiß-schwarzen Augen des Hasen staunten jeweils so lange, bis die Ohren unter Lachen zerbissen waren. Die Tränen der Mutter würden in der Nacht beim Bügeln wieder auf die Hemdkragen fallen, weil der Vater sie angeschrien hatte, er mochte nun einmal keine religiösen Feiertage, er sprach von Heuchelei, vom hohlen Fressen und vom Saufen, von dem kalt gewordenen Braten, der dünnen Morchelsauce, von seiner Kindheit, das könne sich niemand vorstellen, von den Kindern, die alles haben und noch mehr, von der Welt, die alles versprach und nichts hielt. Und die Mutter solle nicht immer wegen des Sohns flennen. Es sei jetzt so. Niemand bringe ihn zurück, auch ihr Geheule nicht. Sein Ärger war verständlich, denn Ostern musste verdient werden, dieses Fest gab sich nicht jedem hin. Der Vater hatte Ostern nur halb verdient. So viel stand fest. Und die Mutter? Die Mutter hatte Ostern verdient, Anna wusste nicht, womit, aber sie wünschte, dass sie endlich nicht mehr weinen würde. Es nervte.

An diesem Sonntag im April würden morgens in der Früh die Kinder wieder in ihren Gummistiefeln stecken, in den Teddybär- und Prinzessinnenpyjamas, ein Körbchen in der Hand, sie würden lärmend über die Wiese vor dem Haus stürmen, den Rasen zertrampeln, der sich gegen das umliegende Braun durchgesetzt hatte. Ein paar kleine Tulpen bereiteten sich jedes Jahr aufs Blühen vor, sie waren so kostbar auf dieser alpinen Höhe, dass in ihrer Nähe nie ein Nest zu finden war. Vielmehr schien die unverwüstliche Zwergmispel ein idealer Ort für faule Erwachsene zu sein, die süßen Überraschungen zu platzieren. Längst kannten die Kinder alle Verstecke, aber sie taten für die Augen der Großen umständlich und freuten sich theatralisch über jeden Fund.

Anna würde am lautesten jubeln. Denn Anna war eine, die wusste, dass Ostern verdient sein wollte. Sie hatte letzten Sommer auf einem Waldspaziergang einen Zwerg gesehen, was wenigen Kindern vergönnt war, Erwachsenen sozusagen nie, das war Anna gleich klar, als sie das durchsichtige Wesen sah, wie es scheu an der Quelle saß und sie unverwandt anblickte. Anna hatte es an der Zipfelmütze erkannt, Ehrfurcht empfunden und leicht mit dem Kopf genickt. Der feine Zwerg hatte die Geste erwidert.

Das Kind sprach mit der Nachbarin, Frau Rauch, über die heilige Kreatur, die sie so ruhig und wohlwollend angesehen hatte. Frau Rauch hatte, obwohl sie zusammen mit Anna spazierte, nichts gesehen außer prächtigen Blumen am Wegrand und bei der Quelle, wo es besonders frisch war. Anna vertraute auf ihren eigenen Blick, denn Frau Rauch war erstens erwachsen und hatte zweitens ihrer Mutter ohne Not ein Kompliment für die hässliche Schürze gemacht, die plastifizierte, geblümte mit dem Reißverschluss, was nicht weiter schlimm war für Anna, Frau Rauch buk die beste Karamelltorte des Dorfs, was genügen musste für eine solide Sympathie. Anna wusste, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Und sie wusste, dass der Zwerg der Gehilfe des lieben Gotts war, der den Kindern Freude schenkte und Schutz bot vor dem Hässlichen und vor dem Dummen, was heißt, vor dem Bösen.

Anna hatte deshalb den toten Spatz mit den glänzenden Augen, den der Schnee vor ein paar Wochen hinter der Garage freigegeben hatte, in Alufolie eingewickelt und in die Tiefkühltruhe im Keller gelegt, gleich neben die Raketenglaces. Die Mutter hatte der Tochter damit zu Weihnachten eine Freude bereiten wollen, aber Anna hatte sich für das Beeren-Rahm-Dessert von Tante Berta entschieden. Seither lagen die Raketenglaces da, vereist und verloren wie die Apollo 13, von der der Vater immer sprach. Niemand sah gerne hin, und niemand mochte sie wegwerfen, vielleicht wollten die Nachbarskinder ja an einem sehr heißen Sommertag eines schlecken, wenn sie wieder von morgens bis abends draußen spielen und lustig sein mussten.

Anna hat den Vogel am Morgen vorsichtig aus dem gekühlten Grab gehoben und den weißen Deckel feierlich geschlossen, der sog sich sogleich an der Dichtung fest, das Geräusch wirkte beruhigend, es beendete Annas Zeit des Hoffens und Leidens.

Was hätten ihre Eltern alles gesagt und getan, wenn sie das arme Tier in der Tiefkühltruhe gefunden und ausgepackt hätten? Seit dem Fund hatte Anna jeden Tag kontrolliert, ob alles in Ordnung war, ob das silberfarbene Bündel noch in dem Fach lag, wo sie es, ein Vaterunser murmelnd, hingebettet hatte.

Wochenlang hatte sie jeden Tag beim Aufstehen schreckliche Angst gehabt, sie litt unter Herzrasen und kaltem Schweiß, aber nach der erfolgreichen Keller-Patrouille hatte sie sich immer wunderbar gefühlt, federleicht, so leicht wie der süße Spatz sich im Flug gefühlt haben mochte, als er noch lebte. Am Karfreitag sollte er nun offiziell sterben. Der Zwerg würde das Zeichen verstehen. Anna hatte sich lange überlegt, ob sie zur Quelle wandern sollte. Aber das schien nicht der geeignete Ort, und es lag noch Schnee da oben.

Der Holunderbusch hatte ein paar Mal seltsam geglitzert, ihr im kalten Januar zugezwinkert. Als Anna einen Pfad zu ihm hin stampfte, sah sie, dass er ein Iglu abgab, die Zweige trugen den Schnee, um ihr ein warmes Haus zu bereiten. Der Holunderbusch hatte auf sie gewartet.

Oft saß sie nach der Schule dort, sie dachte über den Zwerg nach und über Gott, sichtbar nur für reine Kinderaugen, für die Augen kleiner Kinder. Wurden die Kinder größer, verloren sie die Reinheit, und die Reinheit musste durch eine Gabe wiederhergestellt werden. Diese Gabe würde den Weg vom Kind zum Zwerg finden, wenn Anna bis zum Karfreitag bei jedem Vorübergehen am Holunderbusch auf hundert zählte, sechs Vaterunser betete und kein Erwachsener kam. Das hatte sie erfolgreich getan, viele Male. Und nun war es so weit.

Es war Freitag, und die Gabe lag in ihrer Hand. Der Holunderbusch würde, falls der Zwerg das Opfer annehmen sollte, bald blühen und strahlend rote Beeren machen, mitten im orangen Mohn. Anna wusste, alles würde gut, als sie dem Spatz, der auf einem weißen Taschentuch lag, das Dornenzweiglein in den Kopf drückte, es ging mühelos. Wunderschön sah er aus. Sie genoss den feierlichen Moment und gönnte sich ein Mars, das sie langsam aufaß, das Papier strich sie glatt und legte es dem Spatz zu Füßen. Er regte sich nicht.

Da sprach Anna das Vaterunser. Sechs Mal hintereinander, aber nicht zu schnell. Sie verneigte sich vor dem Tier und entfernte sich, die Augen immer auf den toten Spatz gerichtet. Tiere sind so rein, so unschuldig, dachte Anna, als sie in gebückter Haltung und mit dem Rücken voran auf die Wiese trat. Sie schaute zum Himmel und fühlte sich frei. Als sie die Träne von der Wange gewischt hatte, wusste sie, dass nun wirklich alles gut würde. Sie ging ins Haus, wo die Mutter am Küchentisch saß. Sie weinte nicht.

Als Anna am nächsten Tag sah, dass der Vogel nur ein paar Federn zurückgelassen hatte, aber dafür eine rote Tulpe im Dickicht stand und glänzte, dankte sie dem Zwerg mit fester Stimme. Sie verneigte sich vor dem Holunderbusch und machte sich bereit für das Osterfest.

In den kommenden Jahren dachte Anna oft an diese Tulpe im Holunderbusch, die schön und kräftig blühte, auch wenn kein Mensch sie sah. Daran wollte sich Anna immer erinnern. Sie wollte immer ein Ostermädchen bleiben. Sie zog sich nochmals, mit Rouge Allure, Nr. 14 Passion, die Lippen nach, dem Lamborghini unter den Lippenstiften. Anna betrachtete sich, lächelte und steckte den Klappspiegel in ihre Handtasche.

Die Gummistiefel

Der diensthabende Quellgeist hatte dem Rinnsal den Wasserhahn in den Bergen zugedreht, jetzt lag es da als Tümpel, schmiegte sich lang gezogen an die Böschung, die nach oben zum geteerten Parkplatz führte. Die Böschung über dem Tümpel war voller Grillen. Sie sangen verzweifelt, als wüssten sie, im Winter wird uns nicht aufgetan, wir werden erfrieren. Das war wohl in ihre Insektenkörper eingeschrieben. Sie hatten die Rechtschaffenen für einen Augenblick aus dem Takt gesungen und ihnen einen Schatten zugefügt. Niemand tut das ungestraft. Sie wussten es, weil sie sangen, und ich wusste es von Aesop, dessen Fabeln wir in der ersten Klasse hörten.

Die Grillen wussten, dass ihnen im Winter nicht aufgetan wird, aber sie konnten nicht aufhören mit ihrem Gesang, so wie ich nicht aufhören konnte, an meinen Freund zu denken.

Der Tümpel verlief parallel zu den Geleisen, jenseits des Bahnhofs und des Dorfs. Ich weiß nicht mehr, wie und wann ich ihn gefunden hatte. Ich erinnere mich nur noch an die heftige Leidenschaft, die ich für diesen Ort empfand, an dem sonst niemand sein wollte. Das machte ihn zu meinem Ort. Er galt als ungefährlich, weil alle den Tümpel vom Perron aus sehen konnten. Die abgegraste Böschung, den schmalen Korridor, das verstockte Kind erfassten sie mit ihren Blicken. Sie hatten nichts verstanden, aber sie glaubten, alles zu wissen. Alle kannten den Ort, es gab ihn überall, sie begehrten ihn nirgends, sie hatten keine Fragen.

Gleich fuhr ihr Zug.

Ich trug die grünen Gummistiefel meiner Mutter, wenn ich bei den Geleisen stand und zum Bahnhof hinüberschaute. Auf meiner Seite, auf der Seite des Tümpels, gab es keinen Perron. Darüber war ich froh. Niemand wartete auf meiner Seite, niemand stieg hier aus. Und ich wollte nirgendwohin.

Zug fuhr ich nie, keiner in der Familie fuhr Zug. In der Familie galt eine Zugfahrt als Unterwerfung. Mit meinen sieben Jahren konnte ich die Freuden des Zugfahrens, die Freuden der Unterwerfung sein mussten, nur aus den Gesichtern derer lesen, die am Bahnhof herumstanden. Sie bedienten den Automaten, der ein Mars ausspuckte und dazu ein Mineralwasser.

Ich sah, wie sich die Leute, die Zug fuhren, hinter den Fenstern der roten Waggons auf die Polster setzten, wie sie ihre Jacken aufhängten, die Rucksäcke auf die Gepäckablage hievten, wie sie Koffer schleppten oder Handtaschen hielten. Ich sah, wie sie ihre Butterbrote auspackten, wie sie in einen Apfel bissen oder Fingernägel kauten, wie sie winkten oder sich zum Fenster hinauslehnten und redeten.

Manche schauten in Bücher oder Zeitungen, andere unterhielten sich, bevor der Zug quietschend losfuhr in eine Welt, die mir nichts bedeutete. Wenn sich jemand beim Abfahren zum Tümpel wandte, drehte ich mich ab oder schaute zu Boden. Ich wollte nichts beitragen zu der Zugfahrt der anderen, ich wollte mit deren Reise nichts zu tun haben, ich wollte nicht schuld sein an ihrer Enttäuschung.

Stattdessen betrachtete ich die Frosch- und Kröteneier, den Laich und seine Veränderung. Ich betrachtete die Kaulquappen und ihre Veränderung. Ich betrachtete die toten Kaulquappen; mit orangen Pünktchen übersät und von Wasserläufern umtanzt trieben sie an der Oberfläche. Die Larven hingen an den Steinen und schwiegen, ich beschloss zu helfen. Ganze Kaulquappenhundertschaften beförderte ich nun per Wasserglas in das aufgeblasene Kinderbassin vor unserem Haus, damit sie in meiner Nähe eingehen konnten. Ich wusste nicht, womit ich sie füttern sollte.

Mein Mitleid wuchs von Tag zu Tag. Ich stand in meinen Gummistiefeln vor dem stinkenden Wasser und überlegte, was zu tun sei, ich überlegte viele Tage, bis ich die paar Überlebenden zurück in den Tümpel trug. Manche hatten bereits Beinchen, zwei sahen aus wie kleine Frösche. Aber die meisten Kaulquappen waren angefault, sie hatten zerfressene Schwänze oder es fehlte ihnen etwas, ich konnte nicht sagen, was.

Die grünen Gummistiefel meiner Mutter, in denen meine Füße schwammen, trösteten mich mit ihrem mantschenden Geräusch, das ich diesen Frühling, Sommer und Herbst täglich hörte. Sie brachten mir viele Blasen, und wenn der Parkplatz von der Hitze stank, schwitzten die Füße, aber das war mir egal. Ich wackelte durch die Gegend in dieser kleinen grünen Gummiheimat. Ich trug die Stiefel im Garten beim kleinen Todesbassin, ich trug sie beim Tümpel, ich trug sie in der Schule, wenn mich die Mädchen schlugen.

Hatte ich sie getragen, als er und ich auf der Terrasse Schwarzer Peter spielten, er mir seine Fotos zeigte, er die mit Honignüssen gefüllten Orangenhälften teilte, als er mir den Fußballer aus der Chips-Packung von Zweifel schenkte, die zweistöckige Hütte am Bach baute? Hatte ich die Gummistiefel an? Vielleicht.

Er war zehn, als er starb, ohne meinen Tümpel gesehen zu haben. Seine Mutter hatte mir erzählt, er habe die ganze Nacht aus der Nase geblutet, am nächsten Tag brachten sie ihn nach Chur ins Kantonsspital. Ich stand am Fenster zur Gasse, als die Ambulanz kam.

Nach Chur fahren sicher keine Züge, dachte ich, meine Eltern würden es mir sagen. Ich hätte mich der Zugfahrt unterworfen. Er war mein Freund.

Meinen Freund brachten sie drei Wochen später tot in einem Auto zurück.

Die Züge kamen und gingen, die Kaulquappen wurden von den orangen Punkten befallen, die Grillen sangen, die Wasserläufer tanzten, meine Gummistiefel haben alles überlebt. Sie passten auch im folgenden Jahr.

Als ich eines Tages selbst auf dem Perron stand, mein Mars aus dem Automaten zog und in den Zug stieg, hatte ich den lang gezogenen Tümpel längst vergessen. Doch als ich mein Buch aus der Tasche zog und es aufschlug, misstraute ich der Bewegung. Ich wusste nicht, weshalb.

Granada Grischun

Mein Vater konnte tanzen wie ein Gott, aber nur wenn er »Öl am Hut« hatte. Das schmierte seine Bewegung, und dann passte er plötzlich zu meiner Mutter, die nicht zur Göttin werden musste, um zu tanzen wie der Lumpen am Stecken. Es war ihr gegeben. Sie waren ein Paar wie die Faust und das Auge, und dann gute Nacht um fünf. Sie verschwanden zusammen, am späten oder frühen Abend, schlugen sich in die Büsche, krochen lange nicht mehr an Bord des allgemeinen Betriebs, waren wie aus der Flora gepflückt und vom Erdboden verschluckt. Und irgendwann kamen sie wieder auf die Welt – mit vier Kindern und einem heftigen Kater.

Unbestimmte Kopfschmerzen, sagte mein Vater dazu, das komme von den Kartoffeln. Und die Mutter drückte ihm den Staubsauger in die Hand und sagte: Press the button und tu, was zu tun ist! Er tat es nicht. Ich bin ein Bündner Steinbock, meine Vorfahren waren Söldner, ich bin ein Mann der Harpunen, saugen tu ich nicht. Meine Mutter schrie und tobte, dann ging sie ins Kino, sie liebte Vampirfilme, und wir Kinder aßen fünf Tafeln Milchschokolade zum Znacht.

Die Welt war rund, und rund war in Ordnung. Die Mutter kam wieder nach Hause und verküsste den Vater, aber der hatte genug. Sie habe den Karren überladen, den Bogen überspannt. Und du hast ihn unterspannt, ich bin ein Tornado und du ein tropfender Wasserhahn, sagte die Mutter. Kein Hahn kräht danach, kannst deine Brötchen selber backen, sagte der Vater. Ich träume schon lange von Granada, ich habe noch eine Rechnung offen, und da gehe ich jetzt hin, denn ich will kein Hirsemus mehr am Morgen, kein Café complet mehr am Abend. Der Vater hatte schon den Mantel an. Dann geh doch, geh hin und scheitere stillos, sagte die Mutter und hielt ihm die Türe auf. Wir Kinder wussten, er würde wiederkommen, schon bald, aber wir ließen unsre infantilen Eltern gewähren und wendeten uns stattdessen dem Schachspiel zu und unsren metaphysischen Problemen. Warum ist der Himmel blau und so.

Der Vater stand am Bahnhof und beschloss, sofort mit dem Rauchen anzufangen. Er hatte nie geraucht, keine Drogen genommen, nie gejammert, wie er fand, und auch sonst fast nichts vom Leben gehabt. Dass er das Portemonnaie zu Hause vergessen hatte, schmerzte ihn. Hier stand er wie der Esel am Berg und träumte, was Esel so träumen. Man weiß es nicht.

Einmal war er ein Hengst gewesen. Es war in Davos. Winter, 1958. Der Vater dachte wohlwollend an sein junges Ich, ein Walsergrind und Modellathlet, rotzfrech und ohne Fremdsprachenkenntnisse, der mit den anderen Lehrlingen versuchte, tote Mäuse mit Elektroschocks wiederzubeleben, glühende Münzen auf die Straße warf, die Bremse des Velos selten betätigte, in Obstgärten flog, mit zwei gebrochenen Beinen in der Grischa-Bar rumhing und Milch soff wie ein Kalb.

Irgendwann war er wieder gesund und munter wie ein Fisch im Landwasser, ein Hecht mit Milchschnauz, der sich gerne von Davos nach Tiefencastel treiben ließe und dann immer weiter. Aber schwimmen konnte er nicht. Und Tanzen war nicht seine Passion, nicht einmal seine Stärke, sogar seine Schwäche. Er zählte die Schritte mit, schwitzte und zerdrückte dem Anneli die Hand. Außer er hatte Öl am Hut. Er brauchte nur ein paar Tropfen, weil er ja sonst mit Milch lief. Man ging zu Tanz, und er wollte das auch.

Da saß die Schöne. Eine dunkle Olàlà mit allem Drum und Dran. Die vielen Kummerbuben im Saal träumten und raunten, es sei nicht nur eine Olàlà, sie sei eine von den Olé-Olés. Ein Granatapfel, eine Flamenco-Dohle. Sie schlug die Flügel auf, es klang mindestens wie ein dreifaches R, ein schöner herber Engel. Sie wies jeden kühl ab, der artig um den Walzer bat. Kein Wort Deutsch könne die, nicht einmal Dialekt.

Mein Vater nahm Anlauf und glitt auf den Knien über den Bretterboden, er glitt und glitt im Glanz des Muts, um kurz vor dem spitzen spanischen Knie scharf abzubremsen, wie auf der Skipiste, er reckte das Kinn und sagte nichts. Er fasste die Fremde bei der Hand, und sie stand auf. Die Unterkiefer der dreißig Lehrlinge und zwei Gymnasiasten klappten nach unten mit dem typischen Geräusch des Schocks. Totenstille.

Nun setzte die Musik wieder ein, das Trio Handörgeli hatte Stielaugen, sie hatte Augen wie Kohlen und mein Vater war Glut, er fasste sie um die Wespentaille, er dachte an den Sonnenaufgang auf dem Flüela-Pass und zog sie mit Älplerschritt in die Mitte des Tanzbodens. Nach ein paar Drehungen ging ein Ruck durch sie, als schlage ihre sanguinische Hand einen rot-schwarzen Fächer zu. Sie ließ ihn stehen und verschwand. Caramba! War sein Tanz zu schlecht gewesen? Er musste sich erklären.

Mein Vater stand am Bahnhof und hatte nicht einmal Zigaretten. Es muss ja nicht immer Granada sein. In Grenchen war er auch noch nie gewesen. Da meldete sich der kleine Durst. Vielleicht auf einen Grappa an den Stammtisch im Sporthotel? Der Fritz servierte ihm garantiert auch heute ein XL-Cordon-bleu auf Pump.

Xristina

Ich schreibe zu Hause im dritten Stock, mit Blick auf den Garten voller Mohn und Rüben, mit Blick auf den Fluss, der an manchen Tagen blau ist wie der Siphon aus dem Palace Hotel, St. Moritz, 1920, an anderen Tagen wie eine Bouillon mit gewagter Einlage, ich schreibe mit Blick auf die Berge, die rücksichtslos in den Himmel stechen. Oder kratzen sie ihn nur, weil es ihn juckt? Ich schreibe am Hafen von Genua mit einer Meeresbrise in der Nase und einer Prise Schmutz aus dem Gassenwinkel, ich schreibe im Zug, mit einem Sweet Chai in der einen Hand, während die Wiesen vorbeiziehen wie ein grünes Leben. In Zürich schreibe ich in der Küche eines alten Ehepaars, das kürzlich ausgezogen ist. An der Klingel steht nun mein Name. Ihrer ist noch da, er wird immer da sein. Sie haben dieses Haus gekauft und schön gemacht.

Ihre letzten Blicke, bevor sie die Wohnung verließen, hängen an den Wänden wie Bilder, in der Frischhaltefolie Hoffnungsreste, nicht abgelaufen, ein Ei dazu, Salz, Pfeffer, ein prächtiges Frühstück, das jeden stärkt, der von den beiden weiß, ihre Gedanken pflücke ich vom Fenster, lasse sie fliegen, hier riecht es noch nach ruhigem langem Glück. Sie konnten es miteinander. Auf dem kleinen Balkon schaukeln drei bunte Glaskugeln: Die kleinste ist rot wie die unsterbliche Liebe, die mittlere ist blau wie der unsterbliche Himmel, die große ist gelb wie der unsterbliche Mond am unsterblichen Himmel über der unsterblichen Liebe.

Vom Alter und was es vermag, will ich nichts schreiben, es tut nichts zur Sache. Ich schreibe später darüber, in einer anderen Geschichte, einer erfundenen. Was ich verspreche an der Freiestrasse 208, zweiter Stock, am Küchentisch der Leute, die kürzlich ausgezogen sind, weil sie mussten: Ich mache euch zu einem Liebespaar ohne Alter, ohne Gebrechen, zwei junge Wilde, achtzehn Jahre oder zwanzig, die abgehauen sind, durchgebrannt nach Paris, in ein billiges Hotel beim Bahnhof.

Ich schreibe zu Hause oder anderswo, ich schreibe an der Freiestrasse, obwohl alle Geschichten schon da sind, manche warten bei Xristina um die Ecke, unten, an der Forchstrasse 166 und 173. Ich bin in zwei Minuten da, und ich bin oft da. Die Forchstrasse gehört weder zu Zürich noch zur Schweiz, nicht zu Griechenland oder zu unserem Sonnensystem, die Forchstrasse ist auch kein Niemandsland, es ist einfach die Forchstrasse, ich könnte nicht einmal sagen: Sie gehört nur sich selbst oder sie ist ganz Schiene, Straße, Häuser oder Leute. Sie ist ein Gesetzesentwurf, der überall gelten könnte, und das macht sie zu einem schwerelosen Experiment der Freiheit außerhalb der bisher bekannten Raster.

Die unbestrittene Königin und Leiterin des Labors an der Forchstrasse, des Epizentrums dieses Versuchs, heißt Xristina. Jeder kennt sie. Wer sie nicht kennt, ist selber schuld, er hat sie nicht verdient und sollte aus dem Experiment entfernt und im festen Raster fixiert werden.

Ich sehe, Xristina fischt gerade den Roman, den ich schreiben will, aus ihrem karierten Hemd, es ist aus aufgerautem Stoff und hat lange Ärmel, die auch im Hochsommer nicht hochgekrempelt werden, ihr Gesicht ist unbewegt, sie stopft den Text wieder in die kleine Brusttasche, wo immer Bargeld und allerlei Zettel stecken, auf einem Zettel steht mein Roman, Satz für Satz, fixfertig, aber ich habe nicht den Mut, ihn einfach aus der Brusttasche zu ziehen, ich müsste ihn ja zuerst finden, sie hätte nichts dagegen, aber sie will nicht darum gebeten werden, das ist klar, in ihrer Brusttasche steckt auch das neue Autobahnkonzept für die Schweiz, auf dem braunen Block notiert, selbstverständlich auch die Alternative zu einer dritten Gotthardröhre, ein unleserliches Zertifikat sowie die Auszeichnung für die kürzlich bestandene Jagd- und Helikopterprüfung sind dabei, Zückerli für alle, die ein Zückerli zu schätzen wissen, Assugrin für die Diabetiker, die keine Diabetes verdienen; für jeden, der sich zu ihr setzt, gibt es, beispielsweise, Freikarten fürs Ballett, der ehemalige Ballettmeister ist ja oft da, plaudert über Aufführung und Politik oder irgendeine Geschichte, Xristina hat jede Menge Autoren zur Auswahl, der Zugang zu Literatur steht ihr in alle Richtungen offen.