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Helwig Schmidt-Glintzer

Mao Zedong
»Es wird Kampf geben«

Eine Biografie

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Wolfgang Leander Bauer 1930 – 1997
Lisa Catharina Niebank 1913 – 1980
In memoriam

Inhalt

Vorwort

1. Teil
LEHRER

I

10. Oktober 1911:
Auf der Suche nach einer neuen Jugend

Aufbruch in der Provinz | Eine Republik entsteht. Vorgeschichte und Durchbruch | Aus der Kaserne ins Lehrerseminar | Die Stunde für »starke Männer« und die Suche nach einer neuen Moral | Der Koch Ding als Vorbild

II

4. Mai 1919:
Revolution der Kultur und Pläne für ein selbständiges
Hunan

Mr. Science and Mr. Democracy – Peking am Vorabend der 4.-Mai-Bewegung | Radikalisierung der Jugend | »Wir sind aufgewacht!« – Das marode China von Süden aus erneuern | Interesse am Anarchismus und der Traum von einer neuen Gesellschaft | Mehrfache Verluste, Trauer und Neuaufbruch | Eine Buchhandelskette für Hunan | Frauen | »Ich werde mich nicht in eine Marionette verwandeln« – Brief an einen Freund | Mao wird Marxist | Erziehung als Aufgabe

III

1. August 1927:
»Wer sind unsere Feinde?« – Organisator von Bauern und
»König der Berge«

Ein Plan für China – Politische Entwicklungen und Jahre der Entscheidung | Mit Waffen oder Programmen? – Die Whampoa-Militärakademie | »Freiheit« und »Aufs Land« – Der »König von Hunan« | Die Bauernfrage und die Nationale Revolution | Shanghai-Massaker 1927 – Zeit des Weißen und des Roten Terrors | Herbsternte-Aufstand – Geburtsstunde der Roten Armee: »Den Reichen nehmen, um den Armen zu geben« | Rückzug im Jinggang-Gebirge und Formierung einer Bauernarmee

2. Teil
STRATEGE

IV

14. Januar 1929:
Mit neuer Taktik neue befreite Gebiete schaffen

Andauernde Konflikte – Engagierte westliche Beobachter | Maos Rückzug: Depression und Malaria | Revolutionierung der Massen – Die Krankheit behandeln, um den Patienten zu heilen | Die zwei Helden | Interessenkonflikte und »Säuberungen« – Der Futian-Zwischenfall | Weißer Terror und Vorbilder des europäischen Faschismus | Wille zur Macht, Aufbau einer Sowjetregierung und Kampf gegen die Aggression Japans | »Erfolge in kleinen Dingen, Fehler in großen Fragen« – Verunglimpfung und wiederholter Rückzug | Der Einkreisung entgehen – den Feind in seinen Wehrblockhäusern erfolgreich schlagen

V

15. Januar 1935:
Auf dem Weg zum Vorsitzenden

»Chinesen bekämpfen keine Chinesen« – Verständigung auf der Zunyi-Konferenz | Die Massen, die Minderheiten und der neue Heroismus | Ende des Langen Marsches und Wendung gegen Japan | Der Xi’an-Zwischenfall | Die Zeit in Yan’an | Der Zweite Weltkrieg – Mao wird zur Kultfigur | Bekräftigung der Eigenständigkeit der KPCh und Brief an die Söhne in Moskau | Kampf gegen Japan und die Interessen der Alliierten – Die Dixie-Mission | Reichsidee, Nationalismus und die neue Freiheit des Poeten Mao | Alte Geschichtsbilder in neuem Gewand – Ein langer Weg beginnt

VI

1. Oktober 1949:
Ende des Bürgerkriegs und Proklamation der Volksrepublik

Bürgerkrieg, »Neue Demokratie« und Maos verzögerte Reise nach Moskau | Die Hauptstadtfrage | Beim »großen Meister« in Moskau | Koreakrieg und Maos Gefolgschaft | Chinas eigener Weg zum Sozialismus | Stalins Tod und Maos neue Freiheit | Hangzhou als Ort der Verfassung und fortgesetzter Machtkampf in der Hauptstadt | Not im Inneren – Sozialismus statt Freiheit

3. Teil
VISIONÄR

VII

31. März 1956:
Abrechnung mit Stalin – Von Partnern zu Gegnern

Umwege vermeiden – Auseinandersetzungen mit Moskau | »Blindes Voranstürmen« und Schwimmen mit den Massen | Unruhen im sozialistischen Lager – »Marx wird hier jeden Tag gebraucht« | Die Rede vom Papiertiger, vom Ende des Kolonialzeitalters und der Ansatz zum »Großen Sprung« | »Volkskommunen sind gut!« | Brief des Verteidigungsministers – Sorgen und Nöte | Keine Angst vor Gespenstern! | Die »Konferenz der 7000«: Worte Maos in aller Munde und Vorbereitung der Kulturrevolution

VIII

16. Juli 1966:
Schwimmen im Yangtse – »Ein großer Plan für Jahrtausende«

Der eigene Weg und die Sorge um die Zukunft – Spekulationen um Hai Rui | Aufruhr im Himmelspalast: Kulturrevolution und Personenkult | Zurückgezogen in einer Höhle: »Die Zukunft ist glänzend« – Der Brief an Jiang Qing im Juli 1966 | Mobilisierung der Massen – Rebellion bleibt berechtigt | Ein Machtkampf: »Klassenkampf« oder »Bürgerkrieg«?

IX

21. Februar 1972: Wenn Freunde aus der Ferne kommen – Mao trifft Nixon

Personenkult nach innen – Realpolitik nach außen | »Ich bin kein Genie!« – Komplott des Lin-Klans | »Ping-pong-Diplomatie« und Gespräche mit der Neuen Welt | Franz Josef Strauß: »Peking ist eine Reise wert.« Mao: »Es gibt keine Unterschiede zwischen Chinesen und Ausländern«

X

9. September 1976:
Mao stirbt

Die letzten fünf Jahre – Eine zweite Kulturrevolution | Permanenz ohne Revolution – Der »Kampf zweier Linien« geht weiter | Entrückung und Maos Vermächtnis – Die Erde bebt | Die schwierige Rückkehr Deng Xiaopings

XI

Schlusswort

Eine gute Regierung an allen Orten | Mausoleum – Unsterblichkeit und Verantwortung | Mao-Kult und Dritte Welt | Mao und die Bauern | Die Ikone des Vorsitzenden, die Eliten und die Offenheit für die Zukunft

ANHANG

Anmerkungen | Abkürzungen | Siglen von Quellen | Literatur | Abbildungsverzeichnis | Personenregister

Vorwort

»Er besaß alle Eigenschaften zu einem großen Staatsmann – einen lebhaften Geist, ein erstaunendes Gedächtnis, eine unermüdete Arbeitsamkeit; er wusste die Menschen vollkommen zu beurteilen und nach ihren Talenten zu gebrauchen.«

Louis-Sébastien Mercier, Philipp der Zweite.
König von Spanien
(1785),
übersetzt von Friedrich Schiller

Das Portrait Mao Zedongs hängt bis heute an zentraler Stelle über dem Eingang zur verbotenen Stadt in Peking, dem Symbol der Staatlichkeit der Volksrepublik China. Wie das Bild dieses Mannes dorthin gelangte und dort blieb, ist das Thema dieses Buches. Manche fragen, warum dieses Bild dort hängt, werden diesem Manne doch Abermillionen Hungertote zu Zeiten des »Großen Sprungs nach vorn« und die Opfer und das Leid der Kulturrevolution angelastet. Die Kolumnistin Long Yingtai sprach dies aus, als sie von einem Freund berichtete, der sich ein riesiges Mao-Bild von Andy Warhol, Mao mit knallrosa Lippen, in die Wohnung gehängt hatte: »Das Mao-Bild ist ein Mosaikstein seiner Jugendzeit, eine leise Erinnerung an seinen jugendlichen Idealismus oder sogar ein leichter Anflug von Selbstironie im reifen Alter. Wie auch immer, für ihn ist das Mao-Bild ein Bild von Mao. Für mich ist es das nicht. Ich sehe den Mann darin, konkret und gegenwärtig, und von seinen Händen trieft Blut. Guter Gott, dachte ich, wie sollte ich ihm nur meine Gefühle verständlich machen? Ich sagte zu ihm: ›Würdest du auch ein Bild von einem Hitler mit knallrosa Lippen in dein Wohnzimmer hängen, lieber Freund?‹«1

In diesem Buch soll das Leben jenes Mannes dargestellt werden, der Lehrer werden wollte und dann doch merkte, dass er seinen Einsichten nur gerecht werden könne, wenn China sich von Grund auf verändert. Dieser Sohn Chinas hatte viele Seiten: Er war und blieb ein Träumer, ein Visionär, er war eifrig und eigensinnig, zurückhaltend und impulsiv, charmant und verschlossen, gelegentlich auch zynisch und manchmal verzweifelt. Als junger Mann wurde er zum Revolutionär. Zunächst eher ein Außenseiter, ließen ihn nach einigen Jahren seine Umsicht, sein Geschick und seine Menschenkenntnis zum unbestrittenen Kopf der Revolution Chinas werden, und er wurde zum wichtigsten Akteur von dessen Erneuerung. Die zentrale Orientierungsfigur hierfür ist er bis heute geblieben, und das von ihm und seinen Mitstreitern begonnene Projekt, China eine angemessene Stellung in der Welt zu verschaffen, steht weiterhin im Zentrum des Handelns der chinesischen Staats- und Parteiführung.

Früh nahm er wahr, wie China von einer neuen Zeit der Industrialisierung und Technik ergriffen wurde, wie der damit verbundene Rohstoffhunger das Land erfasste und es Teil einer Weltgesellschaft zu werden begann. Diese stand im Zeichen der Grenzüberschreitungen: So strebte Japan in Ost- und Südostasien danach, Großmacht zu werden, indem es unter anderem Maos Heimatland versklavte, in Europa führten die Staaten Krieg, demütigten sich, und neueste europäische Ideen versprachen in Russland zur Grundlage einer besseren Welt zu werden. Ähnlich wie die meisten wachen jungen Menschen Chinas erkannte Mao in Bildung und Erziehung einen Weg, um Kraft für die aktive Beteiligung an Umwälzungen und Veränderungen zu schöpfen.

Seine Heimat zu befrieden und ihre Menschen zu befreien, nicht aber ein großes Reich zu schaffen, war zunächst sein Ziel. Dass es am Ende er selbst sein würde, der das zerteilte China im Wesentlichen in den Grenzen des untergegangenen Mandschu-Reiches zusammenführte, war lange nicht zu ahnen. Er wollte vielmehr in überschaubaren Republiken eine neue Gesellschaft aufbauen. Es gab für die Modernisierung und die Neuformierung Chinas keine Blaupause, und es spross eine Vielfalt an Ideen und Konzepten. Lange blieben solche Vorstellungen und Visionen unerfüllt. Erst die Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 und der Beginn einer gesellschaftlich-politischen und wirtschaftlichen Modernisierung sollten dann ein neues Blatt in der Geschichte Chinas aufschlagen. Der in einer neuen Ordnung erstrebte Fortschritt, insbesondere die Neuverteilung von Landnutzungsrechten und die Durchsetzung des Führungsanspruchs der Kommunistischen Partei, entfesselte in vielfältiger Weise Gewalt und führte zu neuem Unrecht. Die das ganze Land in Bewegung bringenden und in Unruhe stürzenden Kampagnen während der ersten zwei Jahrzehnte der Volksrepublik, als »Großer Sprung nach vorn« und »Kulturrevolution« bekannt, sollten den Fortschritt beschleunigen und den Machterhalt sichern – sie brachten Elend, Willkür und Brutalität. Angesichts der Erfahrung dieser Katastrophen gehört es zu den erstaunlichsten Erscheinungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass Mao weiterhin die verehrte Zentralfigur Chinas geblieben ist. Der Grund hierfür liegt darin, dass die von ihm und seinen Mitstreitern für China angestrebte Entwicklungsrichtung sich im Prinzip bis heute als Erfolgsweg erweist.

Orientierung am Wandel

In den sich rasch wandelnden innerchinesischen wie globalen Konstellationen des 20. Jahrhunderts verschoben sich die Rahmenbedingungen für China immer wieder aufs Neue. Und immer wieder fand sich Mao Zedong vor neuen Herausforderungen, war häufig isoliert – und stellte sich dann mit frischer Kraft und manchmal mit Ranküne erneut an die Spitze der Politik und der Umgestaltung Chinas. Auch am Ende der vorliegenden Darstellung werden viele Fragen zur Charakterisierung dieses Mannes offen bleiben. Sein Bild bleibt schillernd, sein politischer Standpunkt lässt sich schwer festnageln, denn bei der Suche nach einer Fortentwicklung Chinas richtete er sich nicht nach Partei, Büchern oder Ideologien, sondern machte die Tatsachen zum Ausgangspunkt seines Handelns, um so die von ihm vorgefundene Wirklichkeit zu verändern. So liest sich sein Leben wie die Einübung des Gedankens, dass China jenseits aller Autoritäten und aller vorgefertigten Vorstellungen eine Freiheit zustehe, wie es sie noch niemals zuvor gegeben hatte. In diesem Sinne war Mao Zedong ein Visionär, der von der großen Befreiung träumte – wie viele Menschen im 20. Jahrhundert.

Es mag andere Optionen für China gegeben haben; gerade deswegen hadern auch viele mit dem von Mao beschrittenen Weg. Manche stellen ihn »in die Reihe der großen politischen Massenmörder des 20. Jahrhunderts«2, doch übersehen sie, dass er selbst die Unauflösbarkeit der Paradoxien erkannte und um die Unabschließbarkeit geschichtlicher Prozesse wusste. Es spricht manches für die Vermutung, dass nicht Mao dem sich erneuernden China seinen Willen aufzwang, sondern dass lediglich er es war, der die größte Umsicht und die entscheidende Bestimmtheit hatte, den Pfad der Erneuerung herauszufinden und zu beschreiten – und damit weniger als Diktator denn vielmehr als Vollstrecker von Handlungsoptionen begriffen werden muss, die den weiteren Aufstieg Chinas überhaupt erst ermöglichten. Ob er dabei die Entwicklungen, die nach seinem Tode folgten, voraussah, oder ob er sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht vielleicht doch in einem ihm fremden China wiedergefunden hätte, bleibt offen. In China selbst gibt es nicht wenige, die überzeugt sind, das heutige China entferne sich von den Vorstellungen seiner Gründergestalt. Nach wie vor wird die Gestalt Maos immer wieder verstellt durch die Propagandabilder und einen Mao-Kult, dem zeitweise Abermillionen von Chinesen huldigten und dem viele bis heute anhängen. Dabei avancierte er dennoch nicht zur moralischen Autorität, nach der China bis heute sucht und die inzwischen wieder im Typus des unbestechlichen Beamten aufscheint. Vielmehr dient er mit seinem Leben als Projektionsfläche einer »Heroisierung der revolutionären Unruhe«, und seine Gestalt fördert eine »Verklärung der Ruhelosigkeit«.3 Ob und unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen Mao Zedong ein guter Herrscher genannt werden könnte, ist kaum zu beantworten.

Eines aber war ihm seit den ersten Einblicken in die Welt der Politik deutlich: dass es Kampf (douzheng) geben werde und dass dieser unausweichlich sei. Diese Einsicht, die Betonung eines vitalistischen Zuges und der eigenen Willenskraft, wurde zu seinem Lebensmotto. Damit stand Mao in seiner Zeit im frühen 20. Jahrhundert nicht allein. Seine Diagnose war jener in der Zeit des Ersten Weltkrieges formulierten Überlegung Max Webers zur Stellung des Einzelnen in der Welt verwandt, dass er nichts anderes erfahren kann als »den Kampf zwischen einer Mehrheit von Wertreihen, von denen eine jede, für sich betrachtet, verpflichtend erscheint«. Demnach hat der Einzelne »zu wählen, welchem dieser Götter, oder wann er dem einen und wann dem anderen dienen will und soll. Immer aber wird er sich dann im Kampf gegen einen oder einige der anderen Götter dieser Welt … finden.«4 Um die Wahl zu treffen und den Kampf zu bestehen, standen Selbsterziehung, Selbstertüchtigung und Selbststärkung für Mao und seine Gefährten im Vordergrund.

Mao war eine der Schlüsselfiguren bei der Formulierung dieser Programmatik. Er war es, der in seinem Denken über die europäischen Stichwortgeber wie Hegel, Marx, Lenin und über die sowjetrussische Ideologie hinauszugehen vermochte, »weil es die transkulturelle Dynamik von Altem und Neuem, Östlichem und Westlichem auf eigentümlich radikale Weise für sich fruchtbar gemacht hat[te]«.5 Mao war nicht der »Lord of Misrule«, als den ihn manche sehen wollen.6 Er suchte nicht das Chaos »ohne jeden Bezug zur Ordnung«, sondern ihm war einfach nur klar, dass eine Überwindung der größten Ungerechtigkeiten einer längeren Anstrengung und vieler Kämpfe bedarf.

Vor allem stand Mao nicht allein, sondern war Teil eines Aufbruchs seiner Generation und wurde begleitet von Freunden und Freundinnen, von Gefährten ebenso wie von Gegnern. Wer diesen Mann im Kontext verstehen will, muss nicht nur ihn verstehen, sondern auch den Menschen in seiner Umgebung einen Namen und ein Gesicht geben. Der Aufbruch dieser Generation entstand nicht aus dem Nichts: Tüchtige Beamte waren zuvor bereits angetreten, China zu retten und eine Entwicklung zum Besseren einzuleiten. Es waren immer wieder Einzelne, etwa solche Gestalten wie der Gelehrte und Politiker Lin Zexu (1785 – 1850), der als Generalgouverneur und Sonderkommissar in Kanton den Kampf gegen den Opiumhandel organisierte.7 Ihre Namen – so ungewohnt sie in westlichen Ohren auch noch immer klingen mögen – zu erinnern, wäre der erste Funke Respekt, und wo wir ihre Antlitze noch fassen können, sollten wir uns diese vor Augen rufen. Deswegen finden sich im vorliegenden Buch neben Mao auch die Gesichter einiger seiner Begleiter.

Aus der Lektüre bisher unzugänglicher Texte und einem mit den Jahren gewonnenen Abstand können wir den Lebensweg und die Persönlichkeit dieses Mannes neu zeichnen. Als junger Idealist wollte er Lehrer werden und Chinese bleiben. Er ließ sich davon überzeugen, dass Chinas Weg aus der Demütigung und dem Chaos nur mit der Bevölkerung und nicht gegen diese gelingen würde. Um diese auf seine Seite zu ziehen, war es notwendig, die lokale und regionale Unterdrückung zu überwinden, wofür es der Anleitung einer Partei und der Hilfe einer Armee bedurfte. Sein politisches Leben wurde dadurch geprägt, dass er sich mit starken Personen umgab, die sich mit ihm zum Teil über Jahrzehnte helfend, durchaus aber auch kritisch verbanden und von denen einige zeitweise, manche für immer zu seinen Gegnern wurden.

Die Biografie Mao Zedongs ist nicht zu trennen von der Geschichte Chinas. Gerade weil die Transformation dieses Landes weiter im Gang und die Zukunft ungewiss ist, fragen wir nach den Intentionen dieses Mannes. Es ist eine ideengeschichtliche Erkundung, in der auch Einblicke in Protokolle von Gesprächen mit Staatsgästen und der Austausch von Telegrammen, etwa zwischen Stalin und Mao, ihren Platz finden. Wir interessieren uns für das Leben dieses Bauernjungen, der früh erkannte, dass ganz China durch eine Schule gehen müsse, aber auch, dass das von Kriegsherren zerteilte und von Armut, Hunger und Ungerechtigkeit geplagte Land nur zu Frieden und Wohlstand kommen könne, wenn eine neue politische Kraft und eine neue Kultur obsiegen. Dass damit China ein Teil des »Jahrhunderts der Extreme« wurde, verdankt sich dem Umstand, dass Mao wie viele Angehörige seiner Generation auf der ganzen Welt aus der Rolle des Opfers, die ihnen die Geschichte für so lange Zeit zugeschrieben hatte, heraustreten wollte, um in eine Epoche der Selbstbestimmung und der Freiheit zu gelangen. Die Oktoberrevolution in Russland und die internationale kommunistische Bewegung waren hierbei zunächst Maos unverzichtbares Vorbild. Doch die Vorstellungen der chinesischen Kommunisten unterschieden sich von Anfang an von den Vorgaben aus Moskau, sodass dann für den Aufbau Chinas nach Gründung der Volksrepublik bald ein eigener Weg gesucht und beschritten wurde. Dabei wurde der Weg in die Moderne auch zum Kampf gegen überlieferte Strukturen und damit gegen die eigene Seele um den Preis des Verlustes über Jahrhunderte hinweg gelebter Lebensformen. Als Beobachter und als Akteur, als Träumer und handlungsstarker Taktiker, als – manchmal gespielt – wehleidiger und nicht selten hinfälliger Mann, der dann doch immer wieder Zähigkeit bewies und Kraft entfaltete, hielt sich Mao oft lange bedeckt oder entzog sich, um schließlich wieder steuernd einzugreifen. Er konzipierte die neue Verfassung und wurde auch dadurch zur Gründungsfigur eines neuen Chinas. Nach dem Aufbau des Staates und der sozialistischen Reorganisation unter großen Opfern konnte im Inneren eine Neuordnung begonnen und eine neue Außenpolitik verfolgt werden.

Da Mao aber bei jeder Stabilität Stillstand befürchtete und jeder Zustand ihm als vorläufig galt, suchte er Veränderungen zu befeuern. Die Figur Mao kann nur verstanden werden, wenn man erkennt, dass er in den Bildern der Literatur aus Jahrtausenden lebte und die Verehrung der Götter und Geister kannte. Zugleich war er Realist und beschrieb die Lage der Menschen. Sein Ziel war eine Wiedergeburt Chinas mit offenem Ausgang. Er selbst wurde immer wieder totgesagt, doch gelang es ihm in einem Vierteljahrhundert, China so weit zu bringen, dass es nach seinem Tod seine Unrast beibehielt und sich Regeln gab, durch die es einen beispiellosen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung nehmen konnte. Die gegenwärtigen Bemühungen der Regierung um das Vertrauen der Bürger ebenso wie der Investoren, die Suche nach Berechenbarkeit und Verlässlichkeit in einer sich dynamisch wandelnden Welt bei hohem Konkurrenzdruck sprechen dafür, dass gerade die Position des Unabhängigen und gelegentlich Zuwartenden, nicht im Detail Eingreifenden die Schlüsselposition für Chinas Zukunft bleiben wird, für die keine Figur als Vorbild besser geeignet scheint als die Gründergestalt Mao Zedong.

Keine noch so umfangreiche Biografie des Revolutionärs und Staatsmanns vermag abschließend zu entscheiden, wo Mao selbst Handelnder war und die Dinge bestimmte und wo er andererseits nur reagierte oder allenfalls moderieren konnte. Es wird zugleich in vielerlei Hinsicht offen bleiben, welche Handlungsmuster historisch geprägt waren und welche Wege von ihm neu oder gar erstmals beschritten wurden. Wie in jeder Biografie geht es um ein Leben und seinen Verlauf und natürlich auch um die Einbindung des Menschen in seine soziale Umwelt. Wie die einzelnen Sphären miteinander in Beziehung stehen, wie der idealistische Jugendliche, der Schüler, der Liebhaber, der Vater, der Politiker, der Kamerad, der Krieger, der Philosoph, der Träumer sich zueinander verhalten – das herauszufinden ist die Aufgabe des Biografen, und sie stellt sich unabhängig davon, wie viel Schuld und Versagen und welche Verdienste dem Einzelnen zugerechnet werden.

Bei einer Lebensschilderung ergeben sich im Rückblick Strukturen, Brüche und gelegentlich Zäsuren, Höhepunkte und Tiefen, Krisen und Momente großer Stimmigkeit. Um die Darstellung zu strukturieren, wurden in der vorliegenden Schilderung einige Stationen herausgehoben. Im Rückblick gab es im Leben Mao Zedongs ebenso wie in der Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert zahllose Wendepunkte, an denen häufig der Zufall das Verlassen eines Pfades oder das Zustandekommen einer neuen Konstellation bewirkte, sodass von Unausweichlichkeit nicht gesprochen werden kann. Dabei entzieht es sich menschlicher Beurteilung, ob eine Entwicklung mit weniger Leid und weniger Zerstörung, mit weniger Blutvergießen und Erniedrigung von Menschen überhaupt gangbar gewesen wäre oder ob nicht im Gegenteil das Wirken gerade dieses Mannes größeres Unheil verhinderte. Auch lässt sich die leise Ahnung nicht beiseiteschieben, die Erfolge Chinas der Gegenwart, ihre Licht- wie ihre Schattenseiten, seien möglicherweise ohne die Revolution Maos nicht möglich gewesen.

Diese Biografie Mao Zedongs war ursprünglich im Rahmen einer Reihe mit dem Namen »Diktatoren des 20. Jahrhunderts« geplant. Im Zuge der Niederschrift, nach der Lektüre etlicher Texte und Dokumente, dem Nachvollziehen zahlloser Aushandlungsprozesse und im Anschluss an die Rekonstruktion komplexer Situationen, die zum Handeln herausforderten, stellte ich mir die Frage, ob dieser Mann mit dem Begriff des Diktators angemessen charakterisiert wird. Bei Würdigung der Kontexte und Zusammenhänge wird man dieses Etikett als weitgehend unbrauchbar beiseitelegen und sein Augenmerk auf das gemeinschaftliche Handeln und die bewusste Beteiligung vieler Einzelner sowie auf Fortschritte und Verluste und auf millionenfaches Leid richten. Gleichzeitig fällt aus der Vergangenheit ein Licht auf die politische Gegenwart Chinas, und dies nicht nur, wenn sich die derzeitige Staatsführung bei ihren Anstrengungen zu weiteren Reformen unter Rückgriff auf Gedichte Mao Zedongs aus der Zeit des Langen Marsches ausdrücklich in die Tradition des von diesem immer wieder beschworenen unermüdlichen Kampfes stellt. Resultat solcher Anstrengungen und Reformen ist das heutige China, das sich als eigenständige Supermacht Geltung verschafft und der Weltpolitik seinen Stempel aufdrückt, ganz im Anschluss an Maos Traum, China zur Autonomie zu führen.

Danksagung

Wer sich nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit den Sprachen und Kulturen Ostasiens und den nachhaltigen Bemühungen um ein vertieftes und reflektiertes Verständnis europäischer Geschichte und Geistigkeit nun einer einzelnen Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts zuwendet, wird seine Erkenntnisse an den Aussagen vieler Lehrer, im Gespräch mit Schülern, Kolleginnen und Kollegen und mittels mannigfaltiger Lektüren prüfen und dann doch nicht umhinkommen, im Lichte der Gegenwart seine Einsichten vorzutragen. Für das vorliegende Buch war es hilfreich, dass in den letzten Jahren umfangreiche Texte und Zeugnisse hinzutraten, die in die Darstellung einfließen konnten. Da inzwischen auch zusätzliche Dokumente zu den Beziehungen zwischen der KPdSU und China zugänglich sind, konnte manches deutlicher dargestellt werden. Dafür verdanke ich der Mao-Biografie von Alexander V. Pantsov und Steven I. Levine von 2012 viel; dies gilt auch für das Digital Archive des Wilson Center, Washington, D.C. Um den Nachweisapparat nicht über Gebühr auszudehnen, habe ich meine Hinweise auf westliche Literatur und insgesamt auf das Nötigste beschränkt. Den Experten wird von dort aus der Rückgriff auf die umfangreiche internationale Fachliteratur und Materialien in chinesischer Sprache leicht möglich sein.

Das Manuskript ist im Lichtenberg-Kolleg in der Historischen Sternwarte in Göttingen entstanden. Für Rat und Hinweise danke ich Achim Mittag, Nele Noesselt, Magdalene Schmidt-Glintzer und Felix Wemheuer. – Ich danke Susanne Weigelin-Schwiedrzik für die Einladung zu einem Symposium zur Mao-Biographik im Sommer 2016 in Wien und dem Institut für Zeitgeschichte, München–Berlin, vor allem Hans Woller und Thomas Schlemmer, die zur Niederschrift des Buches anregten, auch wenn es dann doch nicht in deren Reihe, sondern selbständig erscheint. Schließlich danke ich dem Lektor Tilman Vogt.

Ich habe diese Arbeit meinem unvergessenen, verehrten Lehrer und Kollegen Wolfgang Leander Bauer gewidmet sowie jener Lehrerin aus Hamburg, die mir, ohne dass wir uns darüber hinaus gekannt hätten, in den Jahren 1968 und 1969 aus Peking, das mir während der Frühzeit der Kulturrevolution nicht zugänglich war, manche Bücher in meine Münchner Studentenbehausung schickte.

Berlin, Silvester 2016

1. Teil
LEHRER

I

10. OKTOBER 1911:
AUF DER SUCHE NACH EINER
NEUEN JUGEND

Aufbruch in der Provinz

Als der junge Mao Zedong im Frühjahr 1911 – er befand sich im 18. Lebensjahr und war damit 18 sui, wie man in China zählt – seine engere Heimat verließ und zu Fuß nach Changsha, der Hauptstadt der Provinz Hunan, ging, eröffnete sich ihm eine neue Welt. Das waldige, hügelige Land seiner Kindheit, geprägt von Bächen und Flüssen, die in den Hu-Fluss münden und nach Norden hin den Dongting-See und damit jenes riesige ausufernde Seen- und Flussgebiet in Chinas Mitte speisen, lag fern von dem in den Küstenstädten des Ostens pulsierenden Leben der neuen Zeit, wo bereits elektrisches Licht und Straßenbahnen Einzug gehalten hatten. Doch auch in seine entlegene Heimat brach die Moderne mit ihren Erschütterungen der sozialen Ordnung bald ein. So soll er in seiner Kindheit Zeuge einer Hungersnot sowie der blutigen Niederschlagung von Bauernunruhen gewesen sein, die später als Grundlegung einer frühen klassenkämpferischen Haltung verklärt wurden. Doch es waren weit mehr Facetten, die bei dem jungen Reisbauernsohn zur Herausbildung eines neuen Weltbildes führten.

Es dürfte ein feucht-kühler Wintertag gewesen sein, als Mao Zedong in dem Ort Shaoshan, mitten in der Provinz Hunan gelegen, etwa 30 Kilometer südsüdwestlich von Changsha, am 26. Dezember 1893 als erstes Kind eines wohlhabenden Bauern in einem Haus mit Innenhof geboren wurde. Der Vater Mao Yichang (1870 – 1920) war als 15-Jähriger mit der drei Jahre älteren Wen Qimei (1867 – 1919) verheiratet worden, die aus einem etwa zehn Kilometer entfernten Nachbarort stammte, in dem man einen von Shaoshan sehr verschiedenen Dialekt sprach. Die Ehe schien mit der Anforderung des Gedenkens an die Ahnen gut vereinbar zu sein, da in Shaoshan ein Großvater des Mädchens begraben war und sie sich dort weiterhin um die Pflege des Grabes kümmern konnte. Auch dass der Vater bei Maos Geburt davon ausging, dass dieser Sohn einmal sein Nachfolger würde, entsprach den typischen chinesischen Familienvorstellungen der Zeit. Die Mutter brachte weitere sechs Kinder zur Welt; von den zwei Mädchen und vier Söhnen überlebten nur zwei Söhne. Früh in die Pflicht genommen, beteiligte sich der 6-jährige Mao Zedong bereits an leichter Feldarbeit, und mit acht Jahren wurde er in die örtliche Dorfschule eingeschult, die er 1907 verließ, um dann ganz der väterlichen Landwirtschaft zur Verfügung zu stehen. Hier bot sich eine aussichtsreiche Perspektive: Der Landbesitz des Vaters hatte sich durch Zukauf vermehrt. Dieser baute nicht nur Reis an, sondern trieb auch einen zeitweise florierenden Reishandel und beschäftigte mehrere Landarbeiter. Neben der Strenge des Vaters ist in Maos Erinnerungen immer wieder vom mitfühlenden Wesen der Mutter die Rede, die eine Anhängerin der Lehre des Buddha war und damit ihre Kinder nachhaltig prägte. So hatte auch Mao ein tiefes Verständnis für solche Frömmigkeit und eine Glaubens- und Welthaltung, in deren Sicht alles in Veränderung begriffen und die Welt von Vergehen und Wiedererstehen gekennzeichnet ist. Die Grundüberzeugung, dass die Welt nie zu Ende gehen werde, ebenso wie die von manchen gehegte Hoffnung, einige Auserwählte könnten sich in ein Paradies retten, waren ihm von früher Kindheit an vertraute Vorstellungen und Bilder, die er bis in sein Alter immer wieder gern aufrief. Seine Geschichtsauffassung und seine Vorstellung von der kosmischen Einbettung der Welt in Abermillionen von Weltzeitaltern und ein unaufhörliches Auf und Ab, Blühen und Vergehen wurden dadurch geprägt. Auch wusste er um die in weiten Kreisen der Bevölkerung vorherrschende Neigung, beim Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung nicht allein Unheil zu erwarten, sondern für neue Heilsversprechen offen zu sein. Das Auseinanderdriften der Wertehorizonte seiner spirituell musikalischen Mutter und seines materialistischen Vaters darf man sich durchaus spannungsreich vorstellen, die Reibung führte bei dem jungen Mao allerdings auch zu einer Öffnung gegenüber der Welt außerhalb der vorgeprägten Wege. Insbesondere das nicht nur harmonische Verhältnis zu seinem Vater versetzte Mao in eine gewisse Unruhe, wie er später erklärte: »Ich habe meinem Vater widersprochen und gesagt: ›In den Vier Büchern und den Fünf Klassikern steht, dass die Kinder ihren Eltern keinen kindlichen Gehorsam erweisen, wenn die Eltern nicht gegenüber ihren Kindern gütig sind. Warum quälst Du mich dennoch so?‹«1 So kam es, dass er begann, sich den Wünschen seines Vaters zu verweigern und den aufkeimenden eigenen Interessen zu folgen, die sich auf das Lesen und das Lernen richteten. Er beschloss, Lehrer zu werden. Diesen subversiven Akt gegenüber dem Vater auch durch die Lektüre von Berichten über Räuberbanden und sich der Ungerechtigkeit der Welt entgegenstellende siegreiche Helden angestiftet zu sehen, wäre wohl eine Übertreibung der literarischen Einflüsse, auch wenn Mao später immer wieder auf den Roman Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihu zhuan) verweisen sollte. Tatsächlich neigte er in seiner Studienzeit keineswegs zur Existenz eines Outlaws. Als er später, gewiss zunächst ohne eigene Absicht, selbst zu einem Hoffnungsträger für viele Enttäuschte wurde, kokettierte er dann aber doch wiederholt mit diesen literarischen Vorbildern.

Dennoch ginge man fehl in der Annahme, verstünde man die jugendliche Abkehr von seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit als außergewöhnliche Auflehnung: Dass der junge Mao nicht in seinem Dorf bleiben wollte, war durchaus nicht ungewöhnlich, denn der Besuch von Schulen und das Erstreben einer Bildungskarriere hatten in China seit Jahrhunderten eine Tradition. Mao blieb seiner Heimat, in der im Altertum das Königreich Chu eine blühende Kultur hervorgebracht hatte, zeit seines Lebens verbunden. Die dieser Gegend Chinas zugeordneten Chu Ci/Gesänge von Chu des Qu Yuan, des »ersten Dichters« der chinesischen Kultur überhaupt, auch als »Gesänge des Südens« bekannt, begleiteten ihn bis an sein Lebensende. Als man 1972 in einem Bezirk östlich von Changsha Gräber aus der Zeit des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts entdeckte und darin unter den spektakulären Artefakten ein Totenbanner aus Seide fand, das inzwischen zu einer der Ikonen der chinesischen Archäologie geworden ist, bestärkte dies Maos Überzeugung, dass er selbst aus dem Herzen Chinas komme.

Nach kurzem Besuch einer Schule in Dongshan, einer kleineren Stadt unweit seines Heimatortes, begab er sich 1911 zum weiteren Studium nach Changsha. An diesen Umschlagplatz für Güter und Neuigkeiten gelangten inzwischen Nachrichten aus aller Welt – für Mao begann dort eine mehrjährige Phase intensiven Lernens, in die sich auch Kunden über die Unruhen in vielen Teilen Chinas mischten.

Eine Republik entsteht. Vorgeschichte und Durchbruch

Die Konflikte und Erhebungen, die schließlich zum Zusammenbruch des Kaiserreiches führen und erst mit dem Ende des Bürgerkrieges und der Ausrufung der Volksrepublik im Jahre 1949 ihr Ende finden sollten, waren nicht überraschend gekommen, sondern fügten sich in eine längere Vorgeschichte ein, die durch staatlichen Zerfall, militärische Gewalt und wirtschaftliches Chaos gekennzeichnet war. Ein Faktor für die Destabilisierung war die Öffnung Chinas für die Welt im Zuge einer Art Globalisierung, die durch die Einführung neuer Techniken, der Telegrafie sowie des Eisenbahnbaus vor allem durch die Kolonialmächte betrieben wurde, welche auf Rohstoffe aus dem Inneren des Landes zugriffen und diese über die Vertragshäfen verschifften. Entsprechende Privilegien zur Ausbeutung von Rohstoffen hatte sich auch das Deutsche Reich in dem Vertrag zur Absicherung seiner Interessen nach der Besetzung der Jiaozhou-Bucht im Jahre 1897 einräumen lassen, wobei der Export von Eisen und Kohle im Zentrum des Interesses stand. Gerade die Kohle sollte zum Schlüsselrohstoff für die weitere Entwicklung Chinas werden, für dessen Erkundung der deutsche Geologe und Forschungsreisende Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833 – 1905) seit seiner ersten Ankunft in Shanghai 1868 wesentliche Grundlagen gelegt hatte.2 China wurde zunehmend von ausländischen Krediten abhängig.

Das Land war in Bewegung geraten. Die von den Kolonialmächten in Zusammenarbeit mit einheimischen sogenannten Kompradoren errichteten Manufakturen in den Küstenstädten hatten zu einer weiteren Verarmung der Menschen auf dem Land geführt, deren Waren aus häuslichen Manufakturen gegen die kostengünstigeren, in Fabriken erzeugten Produkte nicht mehr konkurrenzfähig waren. Immer öfter brachen Aufstände und Streiks aus, und Gewalt lag in den Küstenstädten, aber auch in den urbanen Zentren im Inneren des Landes in der Luft.

Am 13. April 1895 berichtet die Peking Gazette, die englischsprachige Ausgabe der Hauptstadtnachrichten, Wang Lian, amtierender Gouverneur von Hunan, habe bei einer Massenhinrichtung von Aufständischen der Gelaohui, der »Gesellschaft der älteren Brüder«, in Wugang im Südwesten Hunans im Jahr 1894 81 Menschen töten lassen. Diese Geheimgesellschaft hatte seit der Tongzhi-Ära (1856 – 1875) weite Verbreitung gefunden. Vereinigungen wie diese hatten eine differenzierte Struktur, die eine Organisationsform jenseits der staatlichen Institutionen darstellte, und bestanden ihrem Selbstverständnis nach aus unterschiedlichen Gruppierungen, die auch dazu dienten, die Machtbalance innerhalb der Gesellschaft zu sichern. Zentral für das Bestehen dieser Gesellschaften war, dass sie an vielen Orten Unterkünfte für ihre Mitglieder organisierten. Die stärksten und raffiniertesten unter ihnen stiegen zu Hauptfiguren in ihren Organisationen auf, und gelegentlich ergab es sich, dass jemand sein Talent als charismatischer Führer entdeckte. Diese Gesellschaften machten häufig Land urbar und schufen so neue Lebensgrundlagen für ihre Anhänger, oder sie engagierten sich im Handel von nachgefragten Gütern, wozu Salz ebenso zählte wie seit dem 18. Jahrhundert das Opium. Manche folgten buddhistisch geprägten Lebensregeln, waren Vegetarier oder verehrten die »Göttliche Mutter des Westens« (Xiwangmu). Die Mandschu-Verwaltung sah in den Angehörigen dieser Gesellschaften, von denen viele Kampfsportarten pflegten, Verbrecher und Vagabunden. Diese stets auch religiöse Züge tragenden Vereinigungen waren allerdings keineswegs nur rebellisch, sondern handelten auch fürsorglich-strukturbildend und prägten so die örtlichen Lebensräume in vielen Teilen Chinas. Im Grunde waren sie konservativ und auf die Sicherung lokaler Ordnungen gerichtet. Sosehr diese Geheimgesellschaften zu einer rivalisierenden Macht im Staate geworden waren, so wurden sie dann doch zugleich zur Pflanzstätte der politischen Selbstorganisation beim Übergang des chinesischen Kaiserreiches in die Moderne. Ihr Charakter hierarchisch geordneter Schwurbrüderschaften ohne Anspruch auf demokratische Prinzipien übertrug sich auf die später gegründeten Parteien des Landes. Wenn auch unterschiedlichen Interessen folgend, waren sich die über das gesamte Land verstreuten Geheimgesellschaften zunehmend einig darin, dass die Mandschu-Herrschaft gestürzt werden müsse, häufig verbunden mit der Parole »Wiedererrichtung der Ming-Dynastie«, was sich bald mit chinesisch-nationalen Tönen verband.

Allmählich entwickelte sich, unterstützt durch die mittels Telegrafie ermöglichte rasche Verbreitung von Nachrichten, eine neue, ganz China einbeziehende Öffentlichkeit. In den Küstenstädten des Ostens waren um die Jahrhundertwende die westliche Welt und ihre zivilisatorischen Errungenschaften immer stärker eingesickert. Der westliche Einfluss wirkte besonders stark im Erziehungswesen, in jenem traditionellen Kernbereich der Reproduktion chinesischer Kultur. Während der Tongzhi-Reform (ca. 1860 – 1875) waren in den Küstenstädten Kadettenschulen und Militärakademien westlichen Typs sowie Sprach- und Übersetzerschulen in Peking und Nanjing eingerichtet worden. Die begabteren jungen Studenten erstrebten seit der 1862 propagierten »Selbststärkung« (ziqiang) Studienaufenthalte im Ausland, in England, Amerika oder Frankreich und Deutschland, später dann auch in Japan, dessen Reformen während der Meiji-Ära (1868 – 1912) besondere Bewunderung unter jungen Chinesen fanden. Viele suchten nicht ihr eigenes Glück, sondern wollten sich in den am weitesten fortgeschrittenen Ländern der Erde die zur Erneuerung Chinas nötigen Kenntnisse aneignen. Insbesondere das westliche revolutionäre Gedankengut ergriff die urbane Jugend Chinas und schuf ein Interesse, das sich inzwischen nicht nur auf China, sondern auf das gesamte Weltgeschehen und andere unterdrückte Völker wie diejenigen Indiens oder Afghanistans richtete und anarchistische Aktionen wie Bombenanschläge in Städten Amerikas mit Empathie begleitete.3

Als weiterer Akteur des Aufruhrs agierte das Militär. Die Bildung von modernen Armeeverbänden als Antwort auf die Überlegenheit der europäischen Mächte war bei den schlecht bezahlten Unteroffizieren begleitet von wachsendem Unmut. Am 9. Oktober 1911 kam es in Wuchang, der Hauptstadt der Provinz Hubei am Unterlauf des Yangtse, die heute mit Hankow und Hanyang die Metropole Wuhan bildet, zu einer Explosion in einer von aufständischen Militärs betriebenen Bombenwerkstatt. Die Polizei fand dort eine Liste von Verschwörern. Als in der Folge einige Soldaten unter den Verdacht gerieten, revolutionäre Tendenzen zu unterstützen, und festgenommen wurden, besetzten Angehörige der Achten Division am Abend des 10. Oktober 1911 das Waffenlager und die Militärkommandantur von Wuchang, riefen eine Militärregierung und die Republik für ganz China aus und weiteten ihre Kontrolle sodann auf die Nachbarstädte Hankow und Hanyang aus. Auch hier wirkte das inzwischen landesweit eingerichtete Telegrafennetz als Beschleuniger: Innerhalb weniger Wochen, bis Ende November 1911, erklärten alle Provinzen, mit Ausnahme von Zhili (das heutige Hebei), Henan und Gansu, ihre Unabhängigkeit von der Dynastie. Nennenswerte Kampfeinsätze der kaiserlichen Truppen gab es lediglich in Hanyang und Nanjing. Mao hatte seit einiger Zeit die Aktivitäten Sun Yatsens verfolgt, jenes in Hongkong ausgebildeten Arztes, der seit dem Scheitern eines Aufstandes in Kanton gegen die Mandschu-Dynastie 1895 nach Japan geflohen, mit anderen Dissidenten die »Gesellschaft der revolutionären Allianz« (Tongmenghui) gegründet und dann vor allem aus dem amerikanischen Exil eine politische Erneuerung Chinas angestrebt hatte. Im April 1911 hatte Mao Berichte von der Niederschlagung des von Sun Yatsen geplanten Huanghuagang-Aufstandes in Kanton gelesen. Der Plan, den dortigen Gouverneur, Zhang Mingqi, festzusetzen, war durch dessen Flucht vereitelt worden, und die Mandschu-Truppen hatten sich schnell im Straßenkampf gegen die Rebellen durchgesetzt. Mitglieder von Sun Yatsens Tongmenghui sammelten und begruben 72 Tote, die als die »72 Märtyrer« Teil des Gründungsmythos der neuen Republik wurden.

Mao selbst war zu jener Zeit zu einem Anhänger der revolutionären Sache geworden. Wie die meisten anderen seiner Generation schnitt auch er seinen eigenen Zopf ab, den seit dem 17. Jahrhundert die chinesischen Männer zur Unterscheidung von den herrschenden Mandschu zu tragen hatten, und beteiligte sich an Studentendemonstrationen. Als Nachrichten von dem Militäraufstand im Oktober 1911 in Changsha eintrafen, wollte Mao, begeistert durch die Rede eines Vertreters der Tongmenghui, sich selbst den Aufständischen anschließen. Sein erster revolutionärer Elan scheiterte jedoch am Wetter: Weil er gehört hatte, dass Wuchang eine regenreiche Stadt sei, wollte er sich zunächst wasserdichte Schuhe besorgen und versäumte so die Abreise.

Zu diesem Zeitpunkt war offenkundig, dass die Mandschu-Herrschaft an ihr Ende gelangt war. Am 25. Dezember 1911 traf Sun Yatsen, der sich im Ausland aufgehalten hatte, in China ein und wurde fünf Tage später von den in Peking zusammengekommenen Delegierten von 16 Provinzversammlungen zum »Provisorischen Präsidenten« der Republik China ernannt. Am 1. Januar 1912 legte er in Nanjing den Amtseid ab, in dem er schwor, die Mandschu-Dynastie zu stürzen, eine auf den Willen des Volkes gegründete Regierung zu errichten und sodann zurückzutreten, damit das Volk von China seinen Präsidenten wählen könne – denn es war ihm bewusst, dass er kaum Kräfte zur Durchsetzung seiner Ziele zur Verfügung hatte und ohne die Militärs handlungsunfähig war. Daher versicherte er sich der Unterstützung durch Yuan Shikai, den als Befehlshaber der Beiyang-Armee mächtigsten Mann im Norden. Sun Yatsen hatte sich mit anderen Revolutionären bereits Ende Dezember 1911 darüber verständigt, dass Yuan Shikai die einzige Hoffnung darstelle, Bürgerkrieg, Chaos und die Intervention fremder Mächte zu verhindern. Nachdem der Thronregent Prinz Chun am 12. Februar 1912 abgedankt hatte, wurde dementsprechend Yuan Shikai die Präsidentschaft übertragen. Damit war formal die Republik geboren. Das Kalendersystem wurde vom Mond- auf den Sonnenkalender umgestellt, und die Jahreszählung begann mit dem Jahr 1912 als dem ersten Jahr der Republik.

Inzwischen war auch Changsha von Revolutionstruppen besetzt worden. In den ersten Wochen der Republik erlebte Mao dort am Fall von Jiao Defeng und Chen Zuoxin den kurzzeitigen Erfolg und das Scheitern zweier Revolutionäre, die wenig Rückhalt bei den örtlichen Politikern und dem Militär hatten. Als ihre Ziele einer radikalen Land- und Eigentumsreform bekannt wurden, wurden sie von ihren eigenen Truppen ermordet. Mao hatte ihre Leichen selbst auf der Straße liegen sehen und notierte später, sie seien nicht schlecht gewesen, hätten jedoch allein die Interessen der Armen und der Unterdrückten verfolgt und damit die Landbesitzer und die Händler gegen sich aufgebracht. Diese Ereignisse waren Maos erste Begegnung mit der Wirklichkeit von Machtpolitik. Die Notiz zeigt deutlich seinen frühen Blick für das Wechselspiel komplexer Interessenkonstellationen. Der Weg zum politischen Erfolg führte in China dabei immer über das Land und das Lernen von den »unwissenden Massen«, was auch andere Reformer früh erkannt hatten. So ermahnte der später hingerichtete Rebell Tang Caichang einen Mitstreiter in einem Brief: