Mami 1866 – Lach doch wieder, Timmy!

Mami –1866–

Lach doch wieder, Timmy!

Warum ist Papi nicht mehr bei mir?

Gisela Reutling

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-639-8

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»Jetzt sind wir also alle geschieden«, sagte Tim mit einem tiefsinnigen Ausdruck, der so gar nicht zu dem runden Bubengesicht mit der kecken Nase passen wollte, auf der sich, wie hingetupft, ein paar Sommersprossen abzeichneten.

»Was meinst du mit ›alle‹?« fragte Anja vorsichtig.

»Ich hab’ doch gehört, wie du zu Papa gesagt hast, daß es mit Carsten aus ist. Wegen ’ner Charly.« Tim schnaufte auf. »Blöder Name«, fügte er wegwerfend hinzu.

»Von Scheidung kann da keine Rede sein«, stellte Anja richtig. »Wir waren ja nur befreundet, nicht verheiratet.«

»Kannste von Glück sagen«, orakelte der Junge und sah gegen die Decke.

Anja mußte ein wenig lachen. »Ja, das mag schon sein«, gab sie zu.

Tim kuschelte sich zurecht auf der Wohnzimmercouch, auf der Anja ihm wieder das Bett gemacht hatte. »Dann kann er schon nicht mehr meckern, wenn ich da bin«, gähnte er.

»Genau. Und nun schlaf mal schön.« Sie zog ihm die leichte Decke ein wenig höher und tätschelte ihm die pralle Wange. Küßchen mochte er nicht mehr so gern, das war was für Babys, und er war schon bald acht. Genauer gesagt, sieben Jahre und 10 Monate.

Anja ging ins Bad und ließ warmes Wasser in die Wanne laufen, gab einen Schuß Lavendelmilch hinzu. Danach hatte sie sich schon vor ein paar Stunden gesehnt, als sie nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause gekommen war. In ihrem Beruf als Dekorateurin gab es im Schlußverkauf alle Hände voll zu tun.

Nichts als einen ruhigen, gemütlichen Abend hatte sie sich gewünscht. Aber, als sie sich gerade ihren Tee aufbrühte, klingelte es. Vor der Tür stand ihr Bruder Frank, der Tierfilmer. Neben ihm seine Miniausgabe, auch diese mit dunkelblondem Struwwelkopf und strahlendblauen Augen: Tim. Tim blies gerade einen Bubblegum auf und hatte einen Fußball unter dem Arm.

»Du bist meine ganze Hoffnung«, gestand Frank und kam herein. Er stellte eine Reisetasche auf den Boden. Sie war so vollgepackt, daß der Reißverschluß nicht zuging. Obenauf lagen ein Paar Sandalen von seinem Sohn.

»Hör zu, Anja. Ich fahre morgen in aller Frühe mit meinem Team in die Hohen Tauern. Wir wollen im Großglocknergebiet die Geier aufnehmen. Da Tim noch Schulferien hat, war es abgemacht, daß Jenny unseren Sohn in der Zeit zu sich nimmt. Vor einer Stunde hat sie angerufen, daß sie ganz überraschend für zwei Wochen zu Modeaufnahmen auf die Bahamas fliegt. Du kennst sie ja. Unzuverlässig wie nur etwas.«

Anja nahm, leicht resigniert, den Teebeutel aus der Kanne. Der weitere Verlauf der Dinge war ihr nun schon bekannt.

»Für wir lange?« fragte sie nur.

»Drei Wochen werde ich wohl weg sein«, tat Frank zerknirscht. »Ich weiß, es ist eine Zumutung für dich, Anja. Aber es ist unmöglich, unseren lange gefaßten Plan noch zu ändern. Es klappte doch nie mit unseren Terminen. Und jetzt endlich…«

»Schon gut«, unterbrach Anja ihren Bruder. »Es wäre ja nicht das erste Mal, daß ich dir aus der Patsche helfe. Wenn ich nur daran denke, wie du nach Kanada mußtest und deine Geschiedene mit ihrem neuen Freund zum Skilaufen ging, einfach so.«

»Da hat sie mich bei dir abgegeben, und wir hatten’s super zusammen«, vollendete Tim mit einem übermütigen Lachen.

»So?« Beziehungsvoll blinzelte Anja ihrem kleinen Neffen zu. »Den letzten Nerv hast du mir geraubt, du Lauser. Hast du vergessen, wie du beim Zirkusfestival auf einmal verschwunden warst und ich dich suchen lassen mußte? Bei den Elefanten hat man dich endlich gefunden! Und wie du mit deinem Fußball bei Frau Bahrein das Kü­chenfenster eingeschlagen hast…«

»Och, Anja«, Tim bewegte den Kopf und sah sie mit einem schmelzenden Lächeln an, »das ist doch alles schon so lange her. Inzwischen bin ich doch viel älter und vernünftiger geworden und hab’ überhaupt nichts mehr bei dir angestellt. Mußte zugeben.«

»Er hat mir hoch und heilig versprochen, daß er keinerlei Schandtaten bei dir verüben würde«, mischte sich sein Vater ein. »Stimmt das, Tim?« Mit strenger Miene blickte er auf seinen Sohn hinab.

Tim hob zwei Finger seiner rechten Hand zum Schwur. »Aye aye, Sir«, sagte er und nahm stramme Haltung an. Wenn er nämlich nicht Tierforscher würde, wollte er zur See gehen. Zwischen diesen beiden hatte er sich noch nicht entschieden.

»Anderenfalls faxe ich deinen Vater aus den Tauern nach Berlin zurück, so wahr ich hier stehe«, drohte Anja, aber sie lachte dabei.

Sie hatte ein paar Brote gemacht, Tim verdrückte drei Leberwurstschnitten. Und sie hatten noch über dieses und jenes geredet, bevor Frank sich verabschiedete, nicht ohne sie brüderlich fest zu umarmen.

»Bist doch ein Engel, Schwesterchen. Was tät’ ich ohne dich!«

Anja ließ sich etwas tiefer in das duftende Wasser gleiten, ihre Glieder entspannten sich. War es nicht selbstverständlich, daß sie für Frank da war, wenn er sie brauchte? Wie er auch immer für sie. Sie hatten ihre Eltern früh verloren. Der ältere Bruder hatte sie behütet und beschützt. An ihrer engen geschwisterlichen Beziehung hatte sich auch nichts geändert, als Frank die bezaubernd hübsche Jenny geheiratet hatte.

Er hätte es wissen müssen, daß dieses Wesen nicht zur braven Ehefrau und schon gar nicht zur Mutter taugte. Aber das sagte sich so leicht. Erkannt hatte Frank das erst, als der Rauch der Verliebtheit verflogen war, Jenny sich mehr und mehr ihrer Karriere als Fotomodell widmete.

Der Mann, das Kind? Gewiß liebte sie beide, was sie zu versichern pflegte, aber durfte sie deswegen nicht auch ihre eigenen Chancen wahrnehmen?

Es war schon ein Wunder, daß der kleine Tim dennoch prächtig gediehen war. Er war ein völlig unkomplizierter Bub, fröhlich und voller Lebenskraft. Er nahm alles so hin, wie es war, und er fand es gut. Wild und unbändig, ja, das war er schon manchmal, weil doch alles ein herrliches Abenteuer für ihn war, aber er hatte dabei einen Charme, der kleine Kerl, daß man ihm kaum böse sein konnte.

Tim brannte darauf, in die Schule zu kommen, das war doch bestimmt was anderes als im Kindergarten, wo die kleinen Mädchen kreischten, wenn er sich einen Jux daraus machte, sie zu erschrecken. Als es soweit war, ließen die Eltern sich scheiden…

Auch das nahm Tim einigermaßen gelassen hin. Die Mama war ja sowieso nur selten da, und überhaupt war sie keine richtige Mama. Andere Mütter waren anders. Die waren keine Glanzfotos auf Titelseiten von Modezeitschriften.

Keine Frage, daß Tim beim Papa blieb. Der verreiste zwar auch manchmal, aber wenn die Filmaufnahmen im Kasten waren, kam die Hauptarbeit, und die machte er zu Hause. So änderte sich eigentlich nicht viel. Frau Müller versorgte weiterhin den Haushalt, kochte dem »Jungchen« seine Leibspeisen und schickte ihn pünktlich in die Schule.

Und dann hatte er seine Tante Anja, die ihm näher war als jemals seine schöne Mutter. Anja hatte keine grün und blau geschminkten Augendeckel. Sie zog sich auch ganz normal an, in Jeans und Hemden oder Pullis. Wenn er, für kurz oder länger, bei ihr sein durfte, war das für ihn das Höchste.

Ach ja, dachte Anja, als sie aus der Wanne stieg und sich in ihr großes weiches Badetuch hüllte, wir werden auch diesmal zurechtkommen, die drei Wochen ohne Frank. Manchmal konnte sie ihn mitnehmen, je nachdem, wo sie gerade zu tun hatte. Auch hatte er einen Freund in der Nachbarschaft, wo er gelegentlich sein konnte. Und Frau Benscher, die auf derselben Etage hier wohnte, sie würde schon wieder die Tür öffnen, wenn sie nur die helle Knabenstimme hörte. Der kleine Strahlemann war doch besonders der Liebling der älteren Damen.

Vor dem Spiegel bürstete sich Anja ihr dunkelbraunes Haar, das sie kurz zu einer Pagenfrisur geschnitten trug. Es war glatt und kunstlos, aber es glänzte. Ihre Augen waren von einem helleren Braun. Carsten hatte behauptet, sie wären bernsteinfarben. Carsten – Anja ließ die Bürste sinken.

Würde er nun glücklicher werden mit Charly?

Sie bezweifelte es. Auch die blonde Fotografin, die eigentlich Charlotte hieß, würde auf die Dauer seine Ichbezogenheit nicht ertragen. Carsten Hochstetter war ein Macho-Typ, dessen Wort zumindest im Privatleben allein gelten sollte. Trotzdem hatte sie es zwei Jahre mit ihm ausgehalten, weil sie für Liebe hielt, was schließlich nur noch Gewohnheit war. Hatten sie nicht alle ihre Fehler, so hatte sie ihn in Schutz genommen und hinuntergeschluckt, wenn seine herrische Art sie ärgerte. Nicht immer freilich, denn ducken ließ sie sich nicht.

»Was will der Bengel denn schon wieder hier«, konnte er zürnen, an Tagen, die er bei ihr verbringen wollte, sie jedoch zufällig Tim hüten mußte. Denn allzuoft gab es keine gemeinsamen freien Tage. Als Journalist bei der Stadtredaktion der Tageszeitung hatte Carsten unregelmäßige Arbeitszeiten. Er mußte immer dort sein, wo sich etwas anbot.

»Der ›Bengel‹ ist mein Neffe«, erklärte sie dann wohl mit Bestimmtheit. »Ich lasse ihn nicht im Stich.«

»Er hat eine Mutter, oder?« kam es gereizt zurück.

Eine gewisse Gereiztheit hatte sich mehr und mehr in ihre Beziehung eingeschlichen, Stunden zärtlicher Verbundenheit wurden seltener. Bis er ihr eines Tages erklärte: »Ich habe mich in Charly verliebt. Sorry, Anja. Nimm’s nicht so schwer.«

Sie hatte es nicht so schwergenommen, das Loslösen hatte schon seit einiger Zeit begonnen.

Carsten war doch nicht der Richtige für mich, resümierte Anja. Sie brachte ihr Gesicht dicht an den Spiegel heran, während sie sich ein bißchen eincremte.

Viel machte sie nicht, ihre Haut war glatt und zart, das sollte sie auch wohl noch sein mit fünfundzwanzig. Manche hielten sie für hübsch, sie fand sich nicht so besonders. Eher alltäglich. Aber eines Tages würde vielleicht doch der »Richtige« kommen…

»Ja, vielleicht«, sagte Anja zu sich selbst und lächelte sich zu.

Sie schaute noch einmal nach Tim, der im tiefen Schlaf wie ein pausbäckiger Engel aussah, bevor sie in ihr Schlafzimmer huschte und die Decke über sich zog.

*

Es ließ sich alles ganz gut an mit ihrem kleinen Gast. Tim gab sich alle Mühe, brav zu sein. Er räumte sogar sein Bett selber weg, was er auch seinem Vater erzählte, der zweimal in der Woche anrief.

»Wenn Frau Müller mich so sehen würde«, sagte er und stellte seine Schuhe ordentlich nebeneinander. »Die behauptet nämlich immer, ich könnte keine Ordnung halten. Da wär’ bei mir Hopfen und Malz verloren. Ja, so sagt sie. Warum wohl Hopfen und Malz? Aber ist ja wahr, in meinem Zimmer werf’ ich schon öfter alles ’rum. Bei dir nicht. Ne, Anja?« Antwortheischend sah er sie an.

»Nein, du entwickelst dich allmählich zum Musterknaben«, sagte Anja und fuhr ihm neckend über den Haarschopf.

Sie hatte auch mehr Zeit für ihn, denn der Schlußverkauf näherte sich dem Ende zu. Bis zur Ausstellung der neuen Herbstware gab es für sie eine kurze Arbeitspause.

Heute hatte Anja ihren Hausarbeitstag, wie sie das nannte. Sie hatte gewaschen und die Wohnung geputzt, was mal nötig war. Tim war mit dem zehnjährigen Hanno unterwegs. Sie wollten bis zu einer Grünanlage laufen, wo sich ein kleiner See mit Fischen und einer Entenmama mit Jungen befand. Dahinter breitete sich Blauland aus, ein neuer Wohnblock sollte dort entstehen. Dort, wo es noch öde einsam war, sollten sie aber nicht herumstreifen, sondern im Park bleiben, war den Buben geraten worden.

Sie blieben ziemlich lange fort. Anja war schon mit allem fertig, sie bereitete noch einen Pudding für Tim vor. Durch das Küchenfenster sah sie, daß der Himmel sich mehr und mehr verdüsterte. Jetzt wurde sie doch unruhig. In der Ferne war schon Donnergrollen zu hören. Das Gewitter konnte rasch näher kommen. Es war aber auch sehr schwül gewesen den ganzen Tag. Hoffentlich machten sich die Jungs schleunigst auf den Heimweg.

Eine Windbö schlug das Fenster zu. Erste dicke Tropfen klatschten auf das Straßenpflaster. Und weit und breit keine zwei kleinen Buben, die eilig angetrabt kamen. Bald darauf prasselte der Regen hernieder, wie Fahnen trieb der Wind ihn vor sich her. Immerhin, dann konnte das Gewitter schon nicht so schlimm werden. Die beiden würden sich irgendwo unterstellen, beruhigte sich Anja. Bestimmt hatten sie sich schon auf dem Rückweg befunden, da gab es Häuser genug.

Der Schauer hatte noch nicht nachgelassen, als es klingelte. Zwei triefendnasse Gestalten klommen die Treppe empor.

»Kinder!« rief Anja aus, »warum seid ihr denn nicht…« Aber das Wort blieb ihr im Hals stecken, als sie sah, was Tim, der hinter dem etwas größeren Hanno ging, auf den Armen hielt. »Was ist das denn?« fragte sie entgeistert und ließ sie ein.

»Das ist ein Hund«, sagte Tim und setzte das wie Espenlaub zitternde Tier auf den Boden. Schwarzbraunes, krauses Fell klebte ihm an dem mageren Körper. Auf dem frischgesaugten Teppichboden bildete sich eine Pfütze.

»Das sehe ich«, nickte Anja. »Aber wieso bringt ihr ihn zu

mir?«

»Der ist ausgesetzt worden«, erklärte Tim mit Bestimmtheit. »Den konnten wir da nicht lassen.«

»Ja, hinten auf dem Bauplatz war er mit einem Strick festgebunden«, pflichtete ihm sein Kamerad bei. »Er tat uns so furchtbar leid.«

»Jetzt kommt erst mal mit ins Bad!« Im Hinausgehen warf Anja noch einen Blick auf den Hund, der da zitternd mit hängendem Kopf vor sich niedersah. Es war ein Mischling von unbestimmbarer Ras­se. Ein Rauhhaardackel mochte seinen Anteil daran haben, nur war er höher.