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Jana Lehmann

Ich bremse auch für Singvögel

Ein Campervan erzählt aus Neuseeland

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© 2017 Jana Lehmann

Illustration, Umschlag:

Toni Fechner & Jana Lehmann

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN
Paperback: 978-3-7345-8635-4
Hardcover: 978-3-7345-8636-1
e-Book: 978-3-7345-8637-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Reisestationen

Kia ora ki aotearoa

1 Coromandel Peninsula

2 Rotorua

3 East Cape

4 Lake Waikaremoana

5 Taupo

6 Wanganui

7 Wellington

8 Picton

9 Cape Farewell

10 West Coast

11 Fiordland

12 Dunedin

13 Mount Cook

14 Christchurch

15 Kaikoura

16 Mount Taranaki

17 Manu Bay

18 Northland

19 Cape Reinga

20 Auckland

Ode an Neuseeland

Kia ora ki aotearoa

Das heißt: Willkommen in Neuseeland, im Land der langen weißen Wolke! Mein Name ist Romy. Dachte ich zumindest, bis Jule und Tommy mich an einem bis dahin friedlichen Tag aus meinem frühzeitigen Winterschlaf rissen...

Es war März, Herbstanfang in Neuseeland und ich genoss die Sonnenstrahlen auf meinem weißen Lack. Die Vorstellung, nun bis zum Frühling auszuruhen, war wunderbar, denn hinter mir lag eine anstrengende Hochsaison mit chinesischen Campinganfängern auf staubigen Straßen. Ich dachte mir also nichts Böses, bis meine Chefin mich umparkte, mitten auf den schmalen, geschotterten Hof. Oh-oh! Sie würde mich doch nicht etwa noch mal los schicken, jetzt, wo das Saisonende in greifbarer Nähe lag und die Touristen Neuseeland verließen wie Ratten das sinkende Schiff?

Meine Chefin fuhr mit bossy Boris davon, dem jungen Mitsubishi, der sich etwas auf seinen Goldlack einbildete und der unter dem Spott der erfahrenen Campervans litt, weil er erst 80.000 Kilometer drauf hatte – im Stadtverkehr!

Meine Befürchtungen bestätigten sich jedenfalls, als meine Chefin und bossy Boris nicht alleine zurückkamen: Zwei junge Deutsche, müde von den Langstreckenflügen und nichtsdesto trotz mit diesem irren Glitzern in den Augen, das ihre Illusionen von friedlichen Roadtrips und dem Ruf der Freiheit verriet.

Die deutsche Frau sprach mit meiner Chefin, der Mann schaute dauernd zu mir herüber. Ich wurde nervös. Es gab kein Entkommen.

Schließlich stellte meine Chefin mich vor: Romy, eine zuverlässige Partnerin für das geplante Abenteuer. Aaah, wenn ich das schon hörte! Abenteuer! Bitte nicht...

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1 Coromandel Peninsula

Meine neue Mieterin will wissen, wie viele Kilometer ich drauf habe. 268.325, antwortet meine Chefin voller Stolz, als sei sie all diese Kilometer gelaufen. Wie alt ich denn sei. 15 Jahre, antwortet meine Chefin. Ich lache scheppernd in mich hinein. Wenn die wüssten! Das hatten sie eben davon. Eine Lady fragt man nie nach dem Alter! Es folgt die unvermeidliche Einführung in meine technischen Details, die so kompliziert nicht sind, stamme ich doch aus dem schönen Japan. Wobei ich im Laufe meines Lebens auch ein paar Ersatzteile erhalten habe, bei denen ich mich selbst frage, von welchem Erdteil und aus welcher Zeitphase der Industrialisierung sie stammen...

Das Automatikgetriebe kommentieren die beiden Neuen mit Verwunderung. Sie hätten doch mit einem Schaltwagen gerechnet. Ich bin kurz beleidigt. Als sei mein Automatikgetriebe eine Herabstufung ihrer Fahrkünste! „Sie trinkt Diesel!“, gebietet meine Chefin. „Nicht vergessen – Diesel! Ihr müsst sie vorglühen lassen, sonst startet sie nicht!“ Das ist nicht so schwer. Man dreht den Zündschlüssel, wartet, bis ein Lämpchen aufleuchtet, und dreht dann noch weiter. Ich springe an und schnurre wie ein altes Kätzchen. Meine Chefin klappt den Beifahrersitz hoch und zeigt den erstaunten Mietern meinen Motor, den sie dort nicht vermutet hätten.

Ohne sich weiter für mein Innenleben oder die Besonderheiten meiner Karosserie zu interessieren, verschwinden die Drei im Büro. Ich mache ein paar Atemübungen zur Beruhigung (und weil ich nach der Sommersaison immer eine Staublunge habe). Mir kommen tröstende Gedanken. Vielleicht unterschreiben sie den Mietvertrag nicht. Vielleicht ist es ihnen zu teuer! Vielleicht funktioniert die Kreditkarte nicht. Oder vielleicht schickt meine Chefin einen meiner Kollegen los, ich hatte mich doch so auf die Winterpause gefreut...

Als sie jedoch freudestrahlend auf die Veranda tritt und eine gute Fahrt wünscht, sind alle Hoffnungen zunichte. Meine Entführer beginnen eine leise Diskussion darüber, wer zuerst fahren muss. Ich werde wieder nervös. Diese verfluchten Festlandeuropäer und ihr Rechtsverkehr! Die Frau namens Jule setzt sich an mein Lenkrad. Der Mann, Tommy, hat es geschickt hinbekommen, dass sie sich als Siegerin der Diskussion fühlt, und zugleich verborgen, dass er sich nicht traut. Es soll gen Süden gehen, das habe ich schon herausgehört. Den Beiden ist immerhin bewusst, was das bedeutet: Achtspurige Autobahn durch Auckland.

Es geht los, hurra. Ich versuche, meinen Sarkasmus abzulegen und positiv zu denken. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Jule und Tommy merken immerhin sofort, dass meine Tankanzeige auf Reserve steht. Meine ausgefuchste Chefin fährt mich nach einer Rückgabe immer so lange zu ihrem Privatvergnügen herum, bis nur noch ein paar Dieseltropfen übrig sind. Also steuern wir eine Tankstelle an. Auf dem Weg dorthin haben sie, da Jule nach dem ersten Abbiegen die richtige Straßenseite fand und beide beruhigt waren, kein anderes Gesprächsthema als meinen Namen. Romy hin, Romy her. Ich sei doch eher eine Rosie.

Jule meistert die Herausforderung, im Linksverkehr die Spur zu wechseln und rechts abzubiegen. Beim Schulterblick beschwert sie sich: „Man sieht ja gar nichts!“ Als wir an der Tankstelle stehen, kommt sie auf die gute Idee, die dunklen Vorhänge für die Fahrt zu öffnen. Tommy tankt. Ich trinke genüsslich meinen Diesel und stelle mir vor, wie ich in drei Monaten meinen gelangweilten Kollegen von sonnigen Tagen am Meer berichte. Jule geht bezahlen, weil Tommy etwas zögert. Kann doch nicht so schwer sein, auf Englisch Hallo zu sagen und eine Kreditkarte über den Tisch zu schieben! Ich kichere und bekomme Schluckauf. Hab ganz vergessen, wie das ist, einen vollen Magen zu haben. Ich wette eine ganze Kurbelwelle darauf, dass in spätestens einer Woche Jule tanken kann und Tommy auf Englisch Hallo sagen und eine Kreditkarte über den Tisch...

Wir fahren ein paar Kilometer weiter zum gigantischen gelben Supermarkt. Jule ist offenbar schon mal in Neuseeland gewesen, da sie zielstrebig den passenden Laden ansteuert, um sich mit preisgünstigen Lebensmitteln aus Oversea einzudecken. Sie kichert sich durch den ersten zweispurigen Linksverkehr-Kreisverkehr ihres Lebens. Dann taucht der Parkplatz vor uns auf, der unter dem Supermarkt liegt. An der Einfahrt hängt eine Planke mit dem Hinweis, dass diese Einfahrt nicht wesentlich höher ist als ich. Das wird knapp! Jule atmet zischend ein, während Tommy fröhlich fragt: „Wie hoch mag die Resi... Rosie... Romy wohl sein?“

Ich langweile mich in der dunklen Parketage, bis die Beiden wiederkommen und ihre Vorräte unter meinem eingebauten Bett verstauen. Dann geht es weiter. Von der Harbour Bridge aus werfe ich einen letzten Blick auf die geliebte Skyline von Auckland. Goodbye, denke ich. Wer weiß, ob wir uns wiedersehen. Vielleicht fahren die jungen Wilden mich noch vor Wellington zu Schrott und ich werde umgehend per Frachter zurück nach Japan geschickt...

Positiv denken! So wild sind die beiden gar nicht. Jule hält sich bisher strikt ans Tempolimit und steuert mich souverän aus Auckland heraus. Dann verlassen wir den Highway 1, auf dem die Touristenwelle normalerweise gen Süden schwappt, und nähern uns der Küste. Eine gute Entscheidung, denn am Firth of Thames ist es noch spätsommerlich warm. Wir halten auf einem Hügel und Jule und Tommy freuen sich wie Kinder, als sie zum ersten Mal das Meer sehen.

Sie lassen mich für ein Picknick auf dem einsamen Parkplatz zurück. Aus der Ferne höre ich, wie sie darüber diskutieren, ob man wohl unten auf dem Strand für die Nacht campieren könnte. Natürlich entscheiden sie sich dagegen. Ich lache in mich hinein. Da stehen zwar schon zwei Campervans, ein Toilettenhäuschen und ein idealer Lagerfeuerplatz, aber sie trauen sich trotzdem nicht, denn rein theoretisch ist das Wildcampen mit einem Fahrzeug wie mir verboten. Dabei war das Plätzchen wirklich schön...

Wir umrunden die Bucht und fahren auf einen Campingplatz nördlich von Thames. Trotz ihrer Sparsamkeitsbestrebungen mithilfe des unvermeidlichen Lonely Planet Reiseführers und der nutzlosen Aushänge am örtlichen i-SITE (das ist kürzer als „Besucherinformationszentrum") haben Jule und Tommy instinktiv den teuersten Campingplatz von allen ausgewählt. Im Stillen beglückwünsche ich den Gastgeber in Shorts und Sandalen, den ich natürlich kenne und der uns mit dem liebenswerten Pragmatismus meines Landes begrüßt: „Hallo! Ich muss erst mal die Fische füttern. Stellt euer Auto, wohin ihr wollt!“

Der Campingplatz liegt in einem sattgrünen Tal und ist wirklich idyllisch. Es gibt Stromanschlüsse und in meinem Laderaum findet sich ein dickes oranges Kabel. Jule und Tommy stellen fest, dass sie zwar den richtigen Adapter für den Stromanschluss dabei haben, er jedoch aufgrund seines ausladenden Gehäuses nicht in meine Kabelbuchse passt. Tommy entzieht sich der Herausforderung, erkundet meine Geschirrkiste und verschwindet mit einem Paket Nudeln unter dem Arm Richtung Küche. Jule ist diejenige, die loszieht und fremde Camper anquatscht, um sich einen Adapter zu leihen.

Zwei andere Deutsche, was für ein Zufall, haha. Ja, sie könnten den Adapter ausleihen. Ja, sie seien schon ein paar Monate in Neuseeland. Ja, sie hätten in dieser Zeit gearbeitet, schreckliche Dinge über die Forst- und Milchwirtschaft gelernt und wollten nun schnell nach Auckland und ab nach Hause. Naja, Hauptsache der Adapter, denkt sich Jule und verschwendet keinen Blick mehr auf das abgerissene Pärchen und ihren verbeulten Kombi. Ich lausche dem Zirpen der Grillen und ruhe mich aus. 150 Kilometer am ersten Tag, das ist noch im Rahmen.

Nach der ersten Nacht auf meiner komfortablen Federkernmatratze und einem spärlichen Frühstück nehmen Jule und Tommy ihre Wäsche von der Leine und wollen weiter. Der Fairness halber darf diesmal Tommy ans Steuer. Auch er gewöhnt sich schnell an das entschleunigte Fahren und meistert die Serpentinen der Küstenstraße, die sich entlang der Hügel windet.

Währenddessen spottet Tommy weiter über meinen Namen. „Das hat sie gut gemacht, die Lucy... Ich muss bremsen, sorry, Susie...“ Das könnte zu einem ernsthaften Identifikationsproblem für mich werden!

Die Straßen sind schmal, die Brücken einspurig und alle paar Kilometer gibt es geschotterte Haltebuchten, wo der Beifahrer sich für ein Foto aus dem Fenster lehnt oder man einfach nur einen Jeep vorbei lässt. Mein Erfolgsgefühl, wenn ich eine steile Serpentine mit angeschriebenen 15 km/h erfolgreich gemeistert habe, verliert jedoch an Wert, wenn sogleich ein großer Laster mit noch größerem Anhänger entgegen kommt – was, kommentiert Jule, die dürfen hier auch entlang fahren? Ich rolle mit den Scheinwerfern. Natürlich, ihr Lieben, bei uns dürfen alle Fahrzeuge auf der selben Straße fahren! Es gibt ja nur diese.

Und in dieser Gegend wird sie von einsamen Briefkästen, Weidezäunen und überfahrenem Pelzvieh gesäumt. Auf den teils grünen, teils dürren braunen Hügeln verteilen sich Schafe, Kühe und verrostete Scherschuppen. Häuser mit Vorgärten gibt es nur in den kleinen Ortschaften entlang der Küstenstraße, ansonsten werden die Grundstückspreise in Hektar gemessen. Ich nehme dankbar zur Kenntnis, dass wir in dem Örtchen Coromandel auf dem Highway bleiben. Die geschotterte Piste über die Coromandel Range, die man hin und zurück fahren müsste, bleibt mir diesmal erspart. Die berühmte Cathedral Cove, eine Bucht mit Felshöhlen, muss schließlich nicht jeder gesehen haben. Oben auf dem Höhenzug halten wir an und ich verschnaufe und kühle mich ab, während Jule und Tommy picknicken und die Aussicht auf das Meer zu beiden Seiten der Halbinsel genießen.

Der Hot Water Beach bei Hahei ist berühmt dafür, dass Löcher im Sand dank thermischer Aktivität mit heißem Wasser voll laufen, allerdings nur zwei Stunden vor und nach der Ebbe. Dazu müsste man natürlich wissen, wann die Ebbe ist! Wie oft ich diesen Spaß schon miterlebt habe, kann ich nicht mehr zählen. Wir stehen auf dem Parkplatz. Jule und Tommy beratschlagen, ob es sich lohnt, in Badesachen zum Strand zu gehen. Die Sonne scheint, doch der Wind ist kühl. Jule mahnt, dass man keinen Spaten dabei habe. Ich seufze. Einen Spaten soll ich also auch noch an Bord haben, für zwei Gelegenheiten auf zehntausend Kilometern? Ich bitte euch! Den kann man sich doch ausleihen...

Zu dieser Erkenntnis gelangen die Beiden auch und stapfen los, zunächst in die falsche Richtung. Man kann sich schon verirren auf diesen großen Parkplätzen an den Touristen-Hot-Spots, die jetzt im Herbst erstaunlich leer sind. Meine zwei Urlauber sind zwar irgendwann außer Sicht, aber ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie durch den kalten Fluss waten, mit den Taschen auf dem Kopf, wie sie am Strand völlig ratlos nach der richtigen Stelle Ausschau halten und schließlich mit dem Mut der Verzweifelten anfangen zu buddeln.

Wahrscheinlich gräbt Tommy, während Jule Anweisungen gibt. Sie hat schließlich den Spaten von ein paar Sonnenanbetern geborgt und damit ihren Beitrag zum Gelingen der Unternehmung bereits geleistet. Ungeduldig, wie sie ist, hilft sie ihm schließlich trotzdem, in Ermangelung eines weiteren Spatens mit den bloßen Händen. Schnell merken die beiden, dass der Sand auf der verschwitzten Haut klebt und schmerzhafte Reibung entsteht, während sie auf dem nassen Strand knien und wie zwei Kaninchen mit Händen und Füßen den Dreck hinter sich werfen.

Nach einer notdürftigen Reinigung im kalten Pazifik und zweistündiger Beobachtung gelangen sie dann zu der Erkenntnis, dass keine Ebbe ist, denn die Brandung schwappt in ihren sorgfältig angelegten Pool und spült die Sandberge wieder hinein. Aus der Traum vom Bad im warmen Schlamm! Als die beiden nass und voller Sand zurück auf den Parkplatz stapfen, haben sie ihre Enttäuschung schon fast überwunden und witzeln herum: So eine große Sandburg hatten sie noch nie!

Auf dem nahe gelegenen Campingplatz, wo ich schon oft übernachten musste mit besser informierten Gästen, die auf die Ebbe warteten, stärken sie sich mit Fish & Chips und erkundigen sich nach dem Stellplatztarif. Der ist hier natürlich unverschämt hoch, gibt es doch in der ganzen Gegend keinen anderen Stützpunkt der Zivilisation. Jule und Tommy entscheiden sich zur Weiterfahrt, immer auf der Suche nach einem kostengünstigen Stellplatz für die Nacht. Leider hat sich der Traum vom wilden Campen entlang der Straßen im umweltbewussten Neuseeland des 21. Jahrhunderts ausgeträumt.

Ich versuche, nicht beleidigt zu sein anhand des Bedauerns, dass ich nicht self-contained sei, also keine Dusche, kein WC und keine getrennten Abwasserbehälter dabei habe. Bei einbrechender Dunkelheit begnügen sich meine Beiden mit einer nostalgischen Jugendherberge in Tairua, wo ich über Nacht im Hof stehen darf. Ich wundere mich ein bisschen über ihre Ungeduld und den schwäbisch-preußischen Geiz, denn sie lassen sich das Erlebnis entgehen, am Hot Water Beach gemeinsam mit Touristen aus aller Welt im Schlamm zu suhlen, und haben noch drei Monate Zeit, es zu bereuen.

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2 Rotorua

Am dritten Tag unserer gemeinsamen Reise suchen wir bereits das erste Mal die Apotheke auf. Jule braucht Gehörschutz. Mein Motor sei zu laut, sie bekomme Kopfschmerzen und ihr Tinnitus sei zurück. Ich versuche, es nicht persönlich zu nehmen. Vielleicht war sie einfach auf zu vielen Rockfestivals. Ich bin sowieso nachsichtig mit ihnen, denn der Straßenverkehr und die Verkehrsteilnehmer unterscheiden sich hier wohl gravierend von ihrem Heimatland. Vor den Kühler gebundene Fahrräder, Surfbretter oder Schlauchboote auf dem Autodach und Schafe auf dem Anhänger finden sie recht ungewöhnlich.

Gearbeitet wird hier natürlich auch. Baustellen funktionieren so: Am Straßenrand steht ein Jeep, aus dem jemand eine bunte Fahne schwenkt. Ich drossele mein Tempo. Nach der nächsten Kurve beginnt die Baustelle. Wenn beispielsweise zur Fahrbahnerneuerung eine Straßenseite gesperrt werden muss, blockiert ein Bauarbeiter, der über Walkie Talkie mit dem anderen Ende der Baustelle kommuniziert, meine Fahrbahn. Dazu stellt er eine Pylone auf die Fahrbahn, in die er ein STOP-Schild hineinsteckt.

Jule macht den Motor aus, Tommy legt die Füße aus dem Fenster und gemeinsam studieren sie die Landkarte, während der Gegenverkehr im Schneckentempo die Baustelle passiert. Für den Wechsel wird das Schild auf GO gewendet. Dann bin ich an der Reihe, rolle über den golfballgroßen Rollsplit und ersetze so die Straßenwalzen. Ich fürchte zwar um Radkästen, Stoßdämpfer und meinen Lack, aber irgendwann bin ich durch und werde von einem freundlich winkenden Bauarbeiter verabschiedet.

Ansonsten waren ein Flussuferpicknick in Katikati und ein Eis an der Hafenpromenade von Tauranga die kulinarischen Highlights der Fahrt. Der McLaren Falls Park südlich von Tauranga ist das heutige Etappenziel. Jule hat extra beim Department of Conversation angerufen, der staatlichen Naturschutzbehörde. Ihr ernsthafter Versuch, sachliche Erkundigungen einzuziehen über die Campingerlaubnis und die Bezahlung, stieß auf den Pragmatismus meiner zweiten Heimat: Einfach hinfahren, sagt der freundliche Mann am Telefon. Jule fragt nach, denn sie traut ihrem Schulenglisch nach neun Jahren Unterricht immer noch nicht. Ja, einfach hinfahren, bekräftigt der Mann am Telefon. Jule und Tommy können ihr Glück kaum fassen, sind sie doch der bürokratischen Hölle Mitteleuropas entkommen und direkt im Paradies gelandet.

Zwei Stunden später lassen sie mich über das Gitter rattern, das am Rande des Naturparks frei laufende Schafe daran hindern soll, ihre Sommerweide zu verlassen. Wenn ich solche nützlichen Erfindungen mit den staunenden Augen meiner Mitreisenden sehe, frage ich mich immer, wie sie denn bei sich zu Hause ihre Schafe bewachen. Persönlich?

Wir folgen einem nadelbedeckten Weg an einem See entlang, kurven durch die Hügel. Jule traut dem Frieden immer noch nicht ganz: Wirklich keine Rezeption, keine Aufsicht, nicht einmal ein Infostand? Kann es denn so einfach sein? An jeder Weggabelung bestaunen sie die schematische Karte des Parks, auf der verschiedene Seen, Wege und Parkplätze eingezeichnet sind – idiotensicher, dachte ich. Trotzdem lassen sie mich im Kreis fahren, den Hügel hinauf, den Hügel hinab. Hier? Dort? Neben der Toilette? Direkt am See? War da nicht irgendwo noch ein anderer...? Ich muss rückwärts rangieren und in einer riesigen Pfütze wenden, weil wir auf dem schmalen Weg Gegenverkehr haben.

Schlussendlich einigen sich Jule und Tommy auf die höchstgelegene Schafweide als Campingplatz für die Nacht, an der wir übrigens schon zwei Mal vorbei gekommen sind. Es gibt eine Hütte mit Toilette und Dusche, womit die bereits erwähnten Anforderungen ans Wildcampen erfüllt sind. Mir macht es nichts aus, in der von Weidevieh gepflegten Wildnis des Parks zu schlafen. Es kommt bislang keine Einsamkeit auf, denn es sind noch ein paar andere Camper da, vorwiegend europäische Schulabsolventen, die nur Unsinn im Kopf haben, sowie zwei asiatische Großfamilien, die nicht wissen, wie ihnen geschieht.

Ich bin das gewohnt. Übermütige Schulabgänger sind üblicherweise mit klapprigen Kleinwagen unterwegs und schlafen in Zelten, weil der Kofferraum von Plastiksäcken und Schmutzwäsche überquillt. Deins? Meins? Einmal dran schnuppern... Kann man noch getrost zwei Tage tragen.

Die Familien aus Südostasien, die nicht selten drei Generationen in einen überteuerten Mietcamper mit Dachaufbau quetschen, verhalten sich viel zivilisierter, sind aber nur halb so amüsant. Sie fragen sich die meiste Zeit des Tages, ob sie alles richtig machen, ob sie den Campingtisch richtig aufgebaut und die Kochzelle im Kofferraum richtig ausgezogen haben... Wenn dann nichts hilft, holen sie die Bedienungsanleitung, sofern meine vierrädrigen Kollegen eine an Bord haben.