Das Versprechen der Freiheit lockt in die Ferne, heute wie 1867, als Franz Eckstein heimlich aufbrach, um sich der Fremdenlegion anzuschließen. Packend und ernüchternd zugleich berichtet er von den Kämpfen mit Berbern und Beduinen, von wilden Jagden auf wilde Tiere, von quälendem Durst und wüsten Absinth-Gelagen. Als er 1872 wieder in Marseille ankommt, pfeift ein schärferer Wind durch Europa. In Berlin haut das Kaiserreich auf die Pauke; in Dresden spielt die Oper, während Franz Eckstein aufschreibt, wie es ihm in der Welt erging. Aber hier ist die Geschichte der Handschrift keineswegs zu Ende. Bei der Spurensuche, auf die sich Thomas Rietzschel jetzt begeben hat, ist ein vielfarbiges Gesellschaftsbild entstanden. Ein Panorama, das sich vom sinnenfrohen Fin de siècle bis zum Versagen des Bürgertums im 20. Jahrhundert erstreckt.

 

Zsolnay E-Book

Thomas Rietzschel

 

DIE HANDSCHRIFT des Legionärs FRANZ ECKSTEIN

 

Spurensuche eines Jahrhunderts

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

»… die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, dass sie vor einer gewissen, Leben und Bewusstsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt …«

Thomas Mann, Der Zauberberg

 

 

»Was nicht geschehen kann, geschieht; was nur einmal geschehen kann, wiederholt sich.«

Jan Graf Potocki, Die Handschrift von Saragossa

 

 

INHALT

 

Vorwort

Das Bleibende aber stiftet die Phantasie

 

Keiner wird als Legionär geboren

 

Wir hatten ein Haus auf dem Berg

 

So weit die Füße tragen

 

Nichts als Himmel, Wüste, Panther und Absinth

 

Auf Posten zwischen den Stühlen

 

Große Oper Dresden

 

Fremd im eigenen Haus

 

Nachwort

Eine wahrhaft erfundene Geschichte

 

 

Vorwort

 

DAS BLEIBENDE ABER STIFTET DIE PHANTASIE

 

Nicht jede erfundene Geschichte ist aus der Luft gegriffen. Manchmal ergibt sie sich auch aus dem, was zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten geschah. Der Erzähler braucht dann bloß aus der Fülle der Überlieferungen zu schöpfen, um das eine mit dem anderen zu einer wahrhaft erfundenen Geschichte zu verbinden. So hat sich auch alles, wovon dieses Buch berichtet, einmal ereignet, ganz in der Nähe, auf vertrauten Wegen, oder weit weg, in der Ferne, von der die Reisenden einst schwärmten, wenn sie nachhause kamen. Geographisch spannt sich der Bogen von der Brühlschen Terrasse, dem einstigen »Balkon Europas« am Dresdner Elbufer, über Marseille bis in die Wüsten Nordafrikas, an den Fuß des Atlas-Gebirges. Und irgendwann werden wir dann auch wieder in Europa eintreffen.

Das wird freilich dauern, Wochen, Monate, Jahre, ebenso lange, wie ein gewisser Franz Eckstein als Fremdenlegionär mit schwerem Gepäck durch Algerien marschierte. Weit hat er es dabei nicht gebracht. Sein Eifer hielt sich in Grenzen. Weder war er furchtsam noch besonders mutig, kein Abenteurer, nicht einmal ein Heißsporn, aber auch keiner, der sich bei aller Qual, die er zu erdulden hatte, wie ein Sträfling vorgekommen wäre. Nichts von alldem ist Franz Eckstein gewesen, niemand, der die Aufmerksamkeit der Historiker erregte. In den Annalen der Kolonialkriege sucht man seinen Namen vergebens. Bis zum Schluss blieb er der Fußsoldat, als der er sich im Frühsommer 1867 für die Légion étrangère anwerben ließ. Warum, das mag sich im Laufe des Geschehens herausstellen.

Festgehalten sind die Ereignisse in den Erinnerungen, die der deutsche Soldat in französischen Diensten nachher verfasste, um sich noch »später ein Bild von den Einzelheiten machen zu können«: von den Niederlagen und den Siegen beim Vormarsch gegen die arabischen Stämme, dem brutalen Gemetzel bei nächtlichen Überfällen, von wilden Jagden auf wilde Tiere, auf Panther und Leoparden. Den quälenden Durst auf der Flucht über ausgetrocknete Salzseen mochte er ebenso wenig vergessen wie die ausgelassenen Absinth-Gelage in halbverfallenen Festungen. An manches dachte er mit »Wehmut« zurück. Die berückenden Eindrücke der afrikanischen Landschaft wollte er leuchtend im Gedächtnis behalten. Anderes wiederum hat ihm den Schlaf fortwährend geraubt. Die Albträume und das Kalte Fieber, die Malaria, die er sich in den Sümpfen einhandelte, ist er nie mehr losgeworden.

Mit geradezu buchhalterischer Akribie verzeichnet die Handschrift des Legionärs, was er in Afrika erlebte. Und gleichwohl steht vieles noch zwischen den Zeilen. Um es mitzulesen, um uns eine Vorstellung von der Verstrickung des persönlichen Schicksals in die Zeitläufte zu machen, haben wir wiederholt historische Quellen zu Rate gezogen. Lebt doch niemand jenseits der Geschichte, erst recht nicht, wenn er ein so bewegtes Leben führte wie Franz Eckstein. Seine Zeitgenossen, berühmte und weniger berühmte, sogar Kaiser und Könige, haben daran Anteil gehabt. Obwohl sie nie von ihm hörten, von dem einfachen Mann schlichten Gemüts, wäre ohne ihre Gesellschaft nicht denkbar, was ihm widerfahren ist. Seine Erinnerungen hätten nicht auf uns kommen können, hätte es nicht Nachfahren gegeben, die sie von Generation zu Generation weiterreichten, bis ich die Handschrift eines Tages selbst in Händen hielt.

Auch die Erzählungen, die sich um die Überlieferung der Erinnerungen ranken, sind in dieses Buch eingewoben. In ihnen setzt sich fort, was schon bei Franz Eckstein anklingt, was ihn womöglich antrieb, sein Glück im Ungewissen zu suchen. Es sind Geschichten hochfahrender Hoffnung und großer Irrtümer, Geschichten der Illusionen, des übermütigen Taumels und eines leisen Abgangs nicht zuletzt. Keine der Personen, um die es hier geht, verdankt ihre Existenz der Einbildungskraft des Autors. Alle haben sie gelebt, gestern, vorgestern oder zu Zeiten Franz Ecksteins. Alle sind sie mir vertraut, teils aus persönlichen Begegnungen, größerenteils aus dem, was über die Verstorbenen umlief, in der Familie und unter den Freunden. Immer gab es da welche, die sie noch gekannt haben, in deren Gedächtnis sie so lebendig auftraten, als müssten sie eben zu Tür hereinkommen.

Dafür allerdings, dass ehedem alles genauso geschehen ist, wie wir es uns heute vorstellen, will ich die Hand nicht ins Feuer legen. Das könnte kein Historiker für seine Darstellung der Vergangenheit beeiden. Es würde auch wenig nützen. Denn nichts bliebe in Erinnerung, gäben wir uns mit den bloßen Daten und Fakten zufrieden. Wer die Geschichte verstehen will, muss sich allemal mit Phantasie auf die Geschichten als ihre Bausteine einlassen. Und wir können nur hoffen, dass es gelungen ist, die unsere ebenso zuverlässig wie anschaulich, vielleicht sogar spannend zu erzählen. Urkundlich verbürgt beginnt sie in stürmischen Zeiten auf hoher See.

 

 

KEINER WIRD ALS LEGIONÄR GEBOREN

 

Auf der Überfahrt war es den Männern übel ergangen. Kaum dass sie Marseille verlassen hatten, geriet ihr Schiff in die Dünung kräftiger Stürme. Drei Tage trieb es, nahezu manövrierunfähig, im Golfe du Lion, dem Löwengolf. Einst hatten Fischer und Meerfahrer dem Seegebiet unweit der französischen Küste den sprechenden Namen gegeben. Seit jeher fürchteten sie die Winde, die dort unverhofft auffrischen. Auch wenn sie selten die Orkanstärke der Ozeane erreichen, wehen sie doch bedrohlich. Vernichtend brachen sie über die Segler früherer Zeiten herein. Den Dampfschiffen konnten sie später weniger anhaben, mindestens fiel es denen leichter, Kurs zu halten.

Wer aber wäre im Juni 1867 auf die Idee gekommen, für den bunt zusammengewürfelten Haufen einiger Fremdenlegionäre diese schnellere und teure Schiffspassage zu buchen. Da jeder von ihnen Gründe hatte, das Weite zu suchen, mussten sie froh sein, überhaupt wegzukommen. Allesamt hatten sie sich erst wenige Tage zuvor verpflichtet, manche, weil sie sich Abenteuer und Beute versprachen, die meisten, weil sie auf der Flucht vor irgendetwas waren. Viele waren schlicht von daheim ausgebüxt, Hals über Kopf. In Metz hatte das Kommando den Trupp versammelt, dunkle Gestalten und schüchterne Burschen, insgesamt 25 Mann, zu denen in Marseille elf weitere stießen. Selten älter als 20 oder 22 Jahre, waren sie aus der Schweiz oder über die deutsche Grenze nach Frankreich gekommen, oftmals bei Nacht und Nebel. Papiere trugen die Wenigsten bei sich; ihre Vorlage war nicht verlangt. Die Verfügung des »Anonymats« erlaubte den Eintritt in die Legion unter Angabe einer falschen Identität. Hauptsache, die Männer waren bei guter Gesundheit, wenigstens 18 Jahre alt und nicht kleiner als 1,55 Meter. Die Vergangenheit der Geworbenen spielte keine Rolle. Für die kommenden Jahre sollten sie tauglich sein.

Für ihren Transport nach Afrika taten es die alten Seelenverkäufer, morsche Dreimaster und betagte Fregatten. Da, wo sie hinwollten, spielte die Zeit keine Rolle. Viele würden ohnehin niemals nach Europa zurückkehren.

 

»Gefangen in maurischer Wüste

Liegt ein sterbender Fremdenlegionär.

Die Augen nach Norden gerichtet,

Seine Heimat, die sieht er nicht mehr.«

 

So sangen es Generationen von Söldnern, hatten sie erst einmal erkannt, dass sie tagein, tagaus mit dem Tod auf Du und Du standen, dass er sie aus dem Hinterhalt anfallen oder ganz einfach verdursten und verhungern lassen konnte. Wie unvorstellbar muss das Franz Eckstein bei der Ankunft in Algerien gewesen sein. Mit zwei Tagen Verspätung hatte sein Schiff am 17. Juni 1867 im Hafen von Oran festgemacht. »Glücklich überstanden«, schrieb er später in seinen Erinnerungen an die Überfahrt. Erleichtert, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, machten sich die Männer nach der hektischen Ausschiffung auf den kurzen Fußmarsch zum Fort Saint-Grégoire hoch über der Stadt, noch in Zivil und in loser Formation. Die Landratten durften aufatmen. »Mit Gottes Hilfe« hatten sie das erste Ziel erreicht. Angekommen waren sie noch lange nicht, weder in Afrika noch in der Fremdenlegion.

Von der vertrauten Welt trennten sie zwar einige Hundert Seemeilen, aber erst wenige Tage. So schnell konnten sie nicht hinter sich lassen, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte, selbst wenn viele von ihnen aufgebrochen waren, um davonzukommen. Und sei es nur, dass sie wie Franz Eckstein hofften, »als ein freier ungebundener Mensch glücklicher zu werden als Mancher, der im Kreise seiner Familie ein nach seiner Art zufriedenes Dasein führt«.

Solche Erwartungen im Keim zu ersticken zeigte das Offizierskorps der Legion, dem ausschließlich Franzosen angehörten, keine Eile. Die Fremdenlegion der ersten Jahrzehnte war noch nicht beherrscht von einem Haufen gewissenloser Galgenvögel, die sich einen Spaß daraus machten, ihre Mannschaften sadistisch zu drangsalieren. Der Verachtung des gemeinen Mannes durch die Obrigkeit wollte Louis-Philippe I., der einstige Jakobiner, den die Franzosen als »Bürgerkönig« verehrten, keinen Vorschub leisten. In der Söldnertruppe, die er 1831 zur Unterstützung der französischen »Armée d’Afrique« bei der Eroberung Algeriens gegründet hatte, dienten viele, die ihre Heimat als politisch Verfolgte hatten verlassen müssen, zumal nach dem Scheitern der deutschen Revolution von 1848. Die Legion, hofften sie, würde ihnen Ersatz für das verlorene Gefühl nationaler Zugehörigkeit bieten. »Legio Patria Nostra« lautete das Motto. Das Pathos wirkte motivierend, weil es Erhebung und Aufnahme in eine neue Gemeinschaft versprach. Der Glaube daran sollte sich erst auf den weiteren Vormärschen verlieren, bei dem einen früher, bei dem anderen später.

Im Trubel der Ankunft auf dem fremden Kontinent war daran nicht zu denken. In Oran ließ das Kommando die Zügel schleifen. Das Hauptquartier der Fremdenlegion lag noch abseits, landeinwärts in dem einstigen Berber-Dorf Sidi bel Abbès, zwei Tagesmärsche entfernt von der Hafenstadt. Sie hätte sich zur Garnison nicht geeignet. Die Wirtschaft, nicht das Militär bestimmte den urbanen Alltag. Bis heute gilt Oran als die liberalste aller algerischen Städte. Albert Camus hat dort während der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts vorübergehend gelebt. Eines seiner bedeutendsten Werke, der Roman »Die Pest«, spielt in Oran. So wie sie darin erscheint, mutet die Stadt eher europäisch als arabisch an.

Für die Fremdenlegion ist sie ein Umschlagplatz gewesen, keine Festung. Auf dem Fort Saint-Grégoire, das die Spanier im Kampf gegen die Mauren Ende des 16. Jahrhunderts erbauten, wurden die Neuankömmlinge zu Kolonnen für den Abmarsch ins Landesinnere formiert. Alles in allem muss es dabei fast leger zugegangen sein, ohne den militärischen Drill, den der eine oder andere zuvor als Rekrut in sächsischen oder gar preußischen Diensten erfahren haben mochte. Kein Vergleich mit der europäischen Kasernenhof-Atmosphäre. Die Kommandeure hüteten sich, ihre Rekruten gleich nach der Ankunft in den Stiefel zu stellen, ihnen den Übermut zu nehmen, mit dem sie angelandet waren. Noch oft genug würden sie bei dem, was ihnen bevorstand, auf ihr Draufgängertum angewiesen sein. Die Tore des Forts standen ihnen noch offen, wenn auch »auf einem wohl 2000 Fuß hohen Felsen«, wie Franz Eckstein schätzte.

Belastender als das militärische Reglement empfanden die Nordländer das ungewohnte Klima. Wie aus einem Glutofen blies der Schirokko von der Sahara her. Ohne lange zu überlegen, unternahmen die Männer einen Badeausflug, an den sich Franz Eckstein nachher als an das erste Abenteuer seines »-jährigen Aufenthalts in Algerien« erinnerte.

»Die afrikanische Luft«, lesen wir in seiner Handschrift, »namentlich der heiße Wind, der von Zeit zu Zeit von Süden heran wehte und dem wir auf dem hohen Berge doppelt ausgesetzt waren, wirkte ungemein drückend auf die Lungen ein, und so beschloss ich mit unseren Kameraden, mich im Meer zu baden. Es war dies umso nötiger, als wir während der zehntägigen stürmischen Meeresfahrt keine Gelegenheit, uns gründlich zu reinigen, gehabt hatten. Nach Beendigung des Bades wollte ich einen Umweg, den wir beim Herabsteigen vom Fort an das Meeresufer zu machen gezwungen waren, vermeiden und beschloss, einen sehr steilen Felsabhang, wohl 200 Fuß hoch, hinauf zu klettern. Es schien dies keine besondere Schwierigkeit zu haben. Ich führte diesen Vorsatz aus, indem ich mich teils an kleine Felsstücke, teils an zwischen denselben herauswachsenden kurzen Gestrüppen festhielt und so langsam nach oben kletterte. Ich bemerkte nun indes, dass dieses Unternehmen nicht nur im hohen Grade schwierig, sondern sogar höchst gefährlich für mich wurde, indem sowohl die kleinen Felsstücke als auch die kurzen Gestrüppe baldigst nach meiner Berührung aus ihrer Lage gerissen wurden und ins Meer hinunterfielen. Plötzlich wurde ich von einem wahren Grauen erfasst. Ich hing an einem Felsen wohl 50 Fuß über dem Meer und war von jeder Möglichkeit, weiter nach oben zu kommen, abgeschnitten, insofern der Fels nicht nur senkrecht steil, sondern weiter oberhalb sich nach vorn überhängend über mich wölbte und auch nicht eine Spur von Gegenständen, an denen ich mich hätte halten können, mehr zu sehen war.«

Sollte das womöglich schon alles gewesen sein, nach all der Hoffnung auf die große Freiheit in exotischer Ferne, nach den Vorstellungen, die sich Franz Eckstein von den gefährlichen Kämpfen und den schwer errungenen Siegen über berittene Berber und säbelschwingende Mauren gemacht haben mochte? Hatte er sich von der Familie weggestohlen, sich nach Frankreich durchgeschlagen, auf dem Schiff Blut und Wasser geschwitzt, um nun, nach einer Abkühlung im Meer, an einer bröckelnden Felswand zwischen dem blauen Himmel und der wogenden See in Todesangst zu schweben?

Nein, wie der Anfang einer Heldengeschichte liest sich das gewiss nicht. Aber mit der Handschrift des Legionärs ist uns auch kein Roman in die Hände gefallen, sondern der chronologisch verfasste Bericht eines Mannes, der für sich festhalten wollte, wie er die Zeit als Soldat in Afrika überstand. Nüchtern und bisweilen im umständlichen Kanzleistil seiner Zeit beschreibt er das Leben in der Legion. Noch wenn er von einer Jagd berichtet, nach der ihn die Kameraden mit vereinten Kräften unter dem schweren Körper einer tödlich getroffenen Raubkatze hervorzogen, bleibt der Ton protokollarisch sachlich. Da er nur für sich schrieb, musste sich der Autor nichts vormachen, nicht die Banalität verschweigen, aus der sich das Bedrohliche nur allzu oft ergibt. Ein Haudegen, der sich rückschauend in Szene setzen wollte, war Franz Eckstein nicht.

Als er sich am ersten Tag entschloss, vom Meer über den Felsen zum Fort aufzusteigen, glaubte er sicher, die Schwierigkeit abschätzen zu können. Kam er doch aus der Gegend, in der das Klettern erfunden worden war. Die Sächsische Schweiz lag nur wenige Kilometer elbaufwärts von Dresden. Seit sich die Romantiker für die dramatisch zerklüftete Landschaft begeistert hatten – Ludwig Richter malte 1837 »Die Überfahrt am Schreckenstein«; und schon 1817/18 hatte Carl-Maria von Weber nach Ausflügen in das Felsengebirge seinen »Freischütz« mit der berühmten »Wolfsschlucht-Szene« komponiert –, seither, seit sich die Künstler von der wildromantischen Natur inspirieren ließen, hatte das Kletterfieber die jungen Männer erfasst. Gewiss waren nicht alle davon angesteckt, aber doch jene, die es hinter dem Ofen hervorzog, aus der biedermeierlichen Gemütlichkeit der elterlichen Wohnstuben hinaus ins Freie. Dass Franz Eckstein einer von ihnen war, dass er wusste, wie man in die Wände steigt, verrät die weitere Beschreibung seiner Notlage am Felsen.

»Zudem durfte ich«, fährt er fachmännisch fort, »nicht wagen, wieder nach unten zu klettern, weil bekanntlich bei einem Felsen, der nach oben nur schwer zu erklimmen ist, das Hinabklettern noch mit bedeutenderen Schwierigkeiten verbunden ist.« Der Bergsteiger erkannte schnell, dass er sich im Vertrauen auf seine heimische Erfahrung verschätzt hatte. Weder war das Gestein im Vorland der arabischen Wüsten so fest wie der Elbsandstein, an den sich der Kletterer klammern kann, ohne dass er unter der Hand zerbröselt, noch hatten sich die dürren Pflanzen so fest in den Berg gekrallt, dass sie die Sicherheit eines verankerten Kletterseiles hätten bieten können. Franz Eckstein saß in der Klemme.

Erstmals musste er sich eingestehen, in der gesuchten Freiheit mit seinem Latein am Ende zu sein: »Hinunterspringen, das einzige Mittel, welches mir übrig blieb, wagte ich für den ersten Augenblick deshalb nicht, weil unter mir, gerade über der Meeresfläche, ein Felsvorsprung ungefähr 8 Fuß weit in das Meer sich hinein streckte. Doch ich musste dieses Mittel ergreifen, wenn ich nicht hinunterstürzen und zerschellen wollte. Hierzu war auch die höchste Zeit, da der kurze Strauch, an dem ich bloß hing, bereits anfing, sich aus dem Felsstein heraus zu lockern. Ich wende nun alle meine Kräfte an, stemme die Fäuste fest gegen die Felswand und lasse meinen Anhaltspunkt los, indem ich mir einen kräftigen Schwung nach rückwärts gebe und mich hinab in das offene Meer zu schleudern versuche. Es gelang mir, wenn auch mit der äußersten Lebensgefahr. Wäre der Schwung weniger kraftvoll gewesen, so wäre ich unfehlbar durch meine eigene Schwere zerschmettert worden, weil der genannte, sich unter mir in das Meer streckende Felsvorsprung ca. einen Fuß von der Stelle, wo ich in das Meer stürzte, abschnitt.«

Schwimmend gelangte der Abgestürzte ans Ufer. Er brauchte Zeit, sich zu sammeln. Mit dem Schrecken war ihm die Angst vor dem Versagen in die Knochen gefahren. Der freie Fall noch am ersten Tag muss ihm zu denken gegeben haben. Immerhin hatte er sich für fünf Jahre verpflichtet. Das war die übliche Zeitspanne bei der Fremdenlegion. Wer dabei sein wollte, hatte das zu akzeptieren. Gezwungen wurde dazu niemand. Die preußischen Methoden der Anwerbung waren den Franzosen fremd. Jedenfalls in den ersten Jahrzehnten der Légion étrangère soll es so gewesen sein. Die Söldner entschieden sich, aus welchen Gründen immer, allemal freiwillig, ohne dass man sie vorher betrunken machte. Hatten sie aber einmal unterschrieben, gab es kein Zurück, keine Gnade. Denen, die vor Ablauf der Frist zu desertieren versuchten, weil sie der Dienst bis zur Verzweiflung erschöpfte, drohte das Standgericht. Verloren war, wer den Mut verlor.

Davor mag sich Franz Eckstein am meisten gefürchtet haben, als er nach dem gescheiterten Aufstieg zum Fort Saint-Grégoire langsam wieder zu sich kam. Erinnerte er sich doch noch im Rückblick auf das Erlebte an die »körperliche« sowie an die »geistige« Erschöpfung, an die Ahnung lähmender Angst. Denn obwohl ihm wenig daran lag, sich waghalsig hervorzutun, gab er doch ungern auf. Als Spross einer bürgerlichen Familie war er zum Durchhalten erzogen worden, mehr als zu allem sonst. Dass die Truppe, der er inzwischen angehörte, im Laufe der Jahre nur allzu oft gezwungen sein würde, vernünftigerweise aufzugeben, konnte er nicht ahnen.

Wie alle jungen Männer, die ausbrechen, weil sie sich von den Verhältnissen eingeengt fühlen, in die sie das Schicksal geworfen hat, wollte Franz Eckstein nicht im Lager der Verlierer landen. Nicht abermals sollte es ihm ergehen wie ein Jahr zuvor in der Schlacht bei Königgrätz. Dort war er 1866 nach dem Sieg der Preußen als Infanterist der mit Österreich verbündeten Sachsen im Pulk der Geschlagenen abgezogen. Dabei hatten die Soldaten, wie ihnen die Historiker unterdessen bescheinigen, ausgesprochen tapfer gekämpft, obschon sie sich nicht so verzweifelt auf den Feind stürzten wie die Preußen. Von der Natur nicht eben verwöhnt, mit Rübenäckern und sandigem Boden abgefunden, waren sie von Geburt an daran gewöhnt worden, manchen Nachteil mit trotziger Disziplin auszugleichen. Die Sachsen dagegen hatten es, gleich den Österreichern, über Jahrhunderte verstanden, sich mit glanzvoller Inszenierung auf der politischen Bühne zu behaupten. Der Boden gab das her. In den Bergen lagerten Erz, Eisen und Silber. Sogar der Wein gedieh an der Elbe, in den Ländern der Habsburger wuchs er ohnehin. Unter solchen Umständen fiel es leichter als bei den armen Nachbarn im Norden, auf das Glück zu vertrauen. Allein der Disziplin des Staates kam das weniger zugute. Der Genuss des Schönen, das man sich leisten konnte, leistete zugleich der Eitelkeit verführerischen Vorschub.

Woran es den Verlierern von Königgrätz gefehlt hatte, war eine Führung, die in der Lage und willens gewesen wäre, das Geschehen der Schlacht gemeinsam zu überschauen. Rivalitäten im Offizierskorps führten vielfach zur Ausgabe gegensätzlicher Befehle, die dann schwer errungene Erfolge schnell wieder zunichte machten. Das war umso verhängnisvoller, als die Preußen mit den moderneren Waffen schossen. Während die Kaiserlichen, Österreicher wie Sachsen, ihre alten Kanonen aus dem Arsenal geholt hatten, verfügte der Gegner bereits über die treffsicheren Geschütze mit gezogenen Gussstahlrohren. Außerdem war die preußische Infanterie mit den neuen Zündnadelgewehren ausgerüstet, mit Hinterladern, die es erlaubten, schneller zu feuern, indes man auf der Gegenseite viel Zeit damit vertat, die schweren Vorderlader von anno Tobak nachzuladen. Im Vertrauen auf das Althergebrachte hatten die Österreicher die Anschaffung der schlagkräftigeren Waffen aus Kostengründen hinausgezögert. Die Arroganz und der Geiz zogen eine Niederlage nach sich, die das Vertrauen, das die Soldaten in ihre Armee und ihr Land gesetzt hatten, demoralisierend erschütterte. Im unserem besonderen Fall spricht manches dafür, dass sich Franz Eckstein nicht zuletzt deshalb in die Fremdenlegion absetzte.

Dort angelangt, musste er allerdings bald feststellen, dass er, was die Ausrüstung anlangte, vom Regen in die Traufe gekommen war. Zwar hatte der französische Erfinder Antoine Chassepot 1858 ebenfalls ein Gewehr entwickelt, das nicht mehr umständlich von vorn durch den Lauf nacheinander mit Pulver und Blei befüllt werden musste. Als Hinterlader konnte es ebenfalls in kurzer Folge mit Patronen feuern, die bereits alles enthielten: Kugel, Treibladung und Zündelement. Doch tat sich der französische Generalstab mit der Modernisierung ähnlich schwer wie der österreichische. Erst 1868 erfolgte die Ausrüstung der gesamten Armee mit dem Chassepot-Gewehr. Noch später gelangte es in die Hände der Fremdenlegionäre.

So musste Franz Eckstein, als er am zweiten Tag in Oran seine Ausrüstung erhielt, wieder »die alte Vorderlader-Flinte« schultern. Von einer waffentechnischen Überlegenheit der Besatzer konnte keine Rede sein. Mit ihren erbeuteten Schießprügeln waren die arabischen Krieger durchaus in der Lage, den französischen Truppen Paroli zu bieten. Das Gelände, die Gefahren der Wüste und die Schlupfwinkel im Gebirge kannten sie ohnehin am besten. Als exzellente Reiter hatten sie die wendigsten Pferde und Kamele unter dem Sattel, während die Legion überwiegend im Tross marschierte, wegen des Klimas ein paar Schritt langsamer pro Minute als auf den europäischen Schlachtfeldern. Wären die Anführer der Beduinen, der Kabylen und weiterer Berberstämme nicht heillos zerstritten gewesen, die Scheichs nicht selten bestechlich, zur Kollaboration mit den Franzosen bereit, um sich die Taschen zu füllen oder einander eins auszuwischen, die Fremdenlegionäre wären noch übler dran gewesen, als sie es so schon waren. Da die Offiziere, durchdrungen vom Gefühl ihrer zivilisatorischen Überlegenheit, kaum Anstalten trafen, sich taktisch auf die algerischen Verhältnisse einzustellen, hatten die arabischen Krieger oft genug leichtes Spiel. Dass sie von den Europäern für skrupellose Mordbrenner gehalten wurden, kümmerte sie wenig. Die herabwürdigende Einschätzung war der puren Hilflosigkeit geschuldet, Ausdruck des Hochmuts, der vor dem Fall kommt.

Wiederholt noch wird sich Franz Eckstein fragen, ob er nicht bereits wieder unter dem Befehl eitler Dilettanten stand, aufgeblasener Ordensträger, die dachten, ihrer Pflicht zu genügen, wenn sie die Regimenter marschierend in Bewegung hielten, über Hunderte von Kilometern kreuz und quer durch Nordafrika. Wo sie die »arabischen Banden« stellen konnten, wussten die Offiziere in den seltensten Fällen. Öfter als die Legionäre die Feinde aufzustöbern vermochten, gerieten sie selbst in den Kugelhagel, stürzten in metertiefe Fallen oder tranken arglos aus vergifteten Brunnen.

Keiner hätte sich das Desaster kurz nach der Landung in Oran vorstellen können. Für die Gewaltmärsche ins Ungewisse wurden die Neuankömmlinge dort erst einmal mit dem Nötigsten ausgestattet: »mit weißen Hosen, weißen Blusen, Schuhen und Gamaschen, ferner mit einer wollenen Decke sowie Zelt nebst Zubehör«, so die Aufzählung in Franz Ecksteins Handschrift. Die vollständige Uniformierung würde erst später erfolgen, in den Regimentern, denen die Einzelnen zugeteilt wurden. Schrittweise geschah die Eingliederung in die Truppe. Stück für Stück sollten die Legionäre ihren bürgerlichen Habitus verlieren. Als Erstes mussten sie die persönliche Kleidung ablegen, was insofern erleichtert wurde, als sie Hemd, Hose, Jacke und sonstige Habseligkeiten auf eigene Rechnung an die Einheimischen verkaufen durften. Die dafür erlösten Sou – Franz Eckstein übernahm von Anfang an die Gewohnheit der Franzosen, weiterhin von Sou zu sprechen, obwohl der Franc längst eingeführt war – hoben die Stimmung zuverlässig.

19

1861

Dass es Situationen gab, Momente, in denen er diese Entscheidung bereute, verraten seine Erinnerungen eher nebenbei. Sicher war es ihm nicht in die Wiege gelegt, sich einmal als Fremdenlegionär durch die Sahara schleppen zu müssen, oft dem Verdursten nahe. Das hätte er sich ersparen können. Eine familiäre Tradition, die ihm das Soldatenleben auferlegte, gab es nicht. Auch lässt nichts auf eine besondere Leidenschaft für das Kriegshandwerk schließen. Bei allem Mut, den er beweisen musste, war der Legionär Franz Eckstein doch alles andere als ein Desperado, nicht einmal die Westentaschenausgabe eines Lawrence von Arabien. Zum politisch motivierten Abenteurer fehlte ihm der Größenwahn. Wohl aber machte er sich die Überzeugung zu eigen, mit der die Franzosen gegen die Araber vorgingen. Die Europäer sah er stets im Recht gegenüber den »Eingeborenen«, denen er von Fall zu Fall manche Unmenschlichkeit nachsagte. So erzählt er einmal von einem Legionär, dem die Frauen eines Berberstammes nach seiner Gefangennahme bei lebendigem Leib Glied und Hoden abgeschnitten hätten, um die Beute anschließend zu braten. Obschon ihm das nur berichtet wurde, focht ihn kein Zweifel an, auch hegte er keine moralischen Bedenken, als daraufhin mehrere Araber exekutiert wurden, hingerichtet ohne Urteil.

1848

11921