2Derek Parfits bahnbrechende Arbeiten zur personalen Identität, zur Metaethik und zur normativen Ethik prägen seit Jahrzehnten die Debatten der praktischen Philosophie weltweit. Seine zentrale Frage lautet: Worauf kommt es eigentlich an? Er beantwortet sie mit einer innovativen Theorie, die eine reduktionistische Auffassung von personaler Identität mit einer objektiven Theorie praktischer Gründe und einer verblüffenden Vereinigung von Kantianismus, Kontraktualismus und Konsequentialismus verbindet. Erstmals liegen mit diesem Band nun Texte in deutscher Übersetzung vor, die das philosophische Schaffen Parfits in seiner ganzen Breite abdecken.

Derek Parfit (1942-2017) war Senior Research Fellow am All Souls College in Oxford sowie Gastprofessor an der Harvard University, der New York University und der Rutgers University.

Matthias Hoesch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Münster.

Sebastian Muders ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Zürich.

Markus Rüther ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik in den Neurowissenschaften in Jülich.

3Derek Parfit

Personen, Normativität,
Moral

Ausgewählte Aufsätze

Herausgegeben von
Matthias Hoesch,
Sebastian Muders und
Markus Rüther

Aus dem Englischen
von Anneli Jefferson und
Nadine Mooren

Suhrkamp

5Inhalt

Danksagung

Personen, Normativität, Moral:Eine Einführung in die Philosophie Derek Parfits

1. Die Theorie der personalen Identität

1.1 Die These der Bedeutungslosigkeit der Identität

1.2 Die lockeanische Theorie der diachronen Identität

1.3 Die Rezeptionsgeschichte der Theorie personaler Identität

2. Moralphilosophie

2.1 Das Problem der Nicht-Identität und unsere Pflichten gegenüber kommenden Generationen

2.2 Populationsethik: Die Abstoßende Schlussfolgerung

2.3 Was ist schlecht an Ungleichheit? Der Prioritarismus

2.4 Die Triple Theory

2.5 Die Rezeption der Moralphilosophie

3. Metaethik und Theorie der Normativität

3.1 Parfits Gründe-Objektivismus

3.2 Die Fundamentalität des Normativen

3.3 Die Ontologie des Normativen

3.4 Die Epistemologie des Normativen

3.5 Die Rezeption der Metaethik

Literatur

A. Personen und personale Identität

1. Die Bedeutungslosigkeit der Identität

2. Wir sind keine menschlichen Wesen

B. Metaethik

3. Gründe

1. Normative Begriffe

2. Objektive Theorien

3. Subjektive Theorien

4. Normative Wahrheiten

C. Normative Ethik

5. Ein Kantisches Argument für den Regelkonsequentialismus

D. Angewandte Ethik

6. Gleichheit und Vorrangigkeit

7. Überbevölkerung und Lebensqualität

1. Qualität und Quantität

2. Die Abstoßende Schlussfolgerung

3. Das Paradox der bloßen Addition

4. Das zweite Paradox

5. Die Qualität einzelner Leben

6. Perfektionismus

8. Können wir die Abstoßende Schlussfolgerung vermeiden?

Textnachweise

Siglenverzeichnis

Literatur

Fußnoten

7Danksagung

Eine Übersetzung der Werke Derek Parfits ist schon länger ein Desideratum. Im Hinblick auf die Vielfalt und Originalität von Parfits Denken ist es uns im Rahmen eines Bandes nicht möglich, diesem Umstand in jeder Hinsicht gerecht zu werden. Der vorliegende Band muss aus diesem Grund als Kompromiss verstanden werden: Er versucht, weite Teile der Themenfelder abzudecken, mit denen sich Parfit beschäftigt hat, und verzichtet im Gegenzug auf Vollständigkeit. Unsere Zusammenstellung von zentralen Ausschnitten aus On What Matters sowie einflussreichen Aufsätzen soll Parfits Denken einem breiten Publikum zugänglich machen. In der Einleitung versuchen wir, einige der unvermeidlichen Lücken überblicksweise zu füllen.

Ein Projekt dieser Größenordnung lässt sich nicht ohne finanzielle Hilfe realisieren. Wir danken dem Universitären Forschungsschwerpunkt Ethik der Universität Zürich sowie dem Habilitandenkolleg des Exzellenzclusters »Religion und Politik« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster für ihre großzügige Unterstützung.

Anneli Jefferson und Nadine Mooren haben die Texte mit viel Umsicht übersetzt. Wir danken beiden vor allem für die große Geduld bei der mühevollen Diskussion von Detailfragen und den Korrekturläufen. Auch danken wir Johann Frick, Bert Heinrichs, Jan-Hendrik Heinrichs, Lars Kiesling, Karen Meyer-Seitz, Ulrich Steckmann und Niko Strobach für ihre Unterstützung. Jan-Erik Strasser vom Suhrkamp Verlag sind wir für das abschließende Lektorat zu großem Dank verpflichtet, Philipp Hölzing für die Betreuung während des gesamten Publikationsprozesses.

Der größte Dank gilt aber Derek Parfit selbst. Seit den Anfängen des Projekts im Herbst des Jahres 2012 hat er uns beratend unterstützt: Von der Auswahl der Texte bis hin zu konkreten Übersetzungsfragen war er mit viel persönlichem Engagement in alle Entscheidungen involviert; kleinere Abweichungen vom Originaltext hat er wohlwollend autorisiert. Sein plötzlicher Tod im Januar 2017, in dessen Schatten der Band nun erscheint, hat uns tief getroffen. Der Band wird hoffentlich dazu beitragen, dass sei8ne Argumente dem philosophischen Diskurs noch lange erhalten bleiben.

Matthias Hoesch, Sebastian Muders und Markus Rüther

Münster/Zürich/Jülich, im Januar 2017

9Personen, Normativität, Moral:Eine Einführung in die Philosophie Derek Parfits

Derek Parfit (1942-2017) gehörte nicht zu den Intellektuellen, die in der Öffentlichkeit viel von sich reden machen. Vielmehr erinnert sein Wirken in mancher Hinsicht fast schon an das Urbild des Wissenschaftlers im Elfenbeinturm: Seine jahrzehntelange Position als Fellow in Oxfords All Souls College hat es ihm gestattet, seine Kräfte unermüdlich auf die philosophische Forschung und den Austausch mit den Fachkollegen zu konzentrieren. Ganz am Erkenntnisgewinn orientiert, war Parfit an Medienpräsenz wenig interessiert.[1] In den akademischen Debatten zur praktischen Philosophie der Gegenwart ist er dafür allgegenwärtig. Seine Hauptwerke Reasons and Persons (im Folgenden: RaP) und On What Matters (im Folgenden: OWM) gehören sowohl in der internationalen Debatte als auch im deutschen Universitätsalltag ebenso zum Kanon der wichtigen Primärwerke wie zahlreiche seiner Aufsätze. Seine Art, sich ohne Umwege und zugleich bis in die tiefsten Verzweigungen vieler zentraler Probleme der Philosophie anzunehmen, macht ihn über seinen Tod hinaus zu einem unverzichtbaren Diskussionspartner.

Parfits Leben lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: 1942 in China als Sohn eines britischen Ärzte-Ehepaars geboren, das sich der Arbeit in Missionskrankenhäusern widmete, studierte Parfit in Oxford zunächst Geschichte. 1965/66 entdeckte er bei einem Aufenthalt an der Columbia University und in Harvard die Philosophie für sich und wurde bereits 1966 Fellow am All Souls College in Oxford, wo er – von einigen Gastprofessuren abgesehen – den Rest seiner philosophischen Karriere verbrachte, bis er am 1. Januar 2017 überraschend verstarb.

Der philosophische Durchbruch gelang Parfit auf breiter Linie spätestens 1984 mit dem bereits nach wenigen Jahren zum Klassiker 10avancierten Buch Reasons and Persons.[2] Neben Überlegungen zur Theorie rationaler Entscheidung sowie zu Problemen des Konsequentialismus und der common sense morality enthält dieses Buch vor allem eine Theorie personaler Identität und Thesen zu unseren Pflichten gegenüber zukünftigen Generationen.

Im Anschluss widmete Parfit sich lange der Suche nach der plausibelsten Moraltheorie und ihren metaethischen Implikationen. Seine Ergebnisse stellt er zunächst 2002 im Rahmen der Berkeley Tanner Lectures on Human Values vor. Nachdem das Manuskript jahrelang unter vielen Kollegen im englischsprachigen Raum zirkuliert hatte und durch Parfits Reaktionen auf die vorgebrachte Kritik immer umfangreicher geworden war, erschienen 2011 zwei Bände unter dem Titel On What Matters. Während Band 1 von einer Auseinandersetzung mit dem Kantianismus dominiert ist und in der Formulierung der sogenannten Triple Theory gipfelt, enthält Band 2 einerseits kritische Kommentare von Susan Wolf, Allen Wood, Barbara Herman und Thomas Scanlon, die überwiegend im Rahmen der Tanner Lectures vorgetragen wurden;[3] und andererseits Parfits eigene umfangreiche Überlegungen zur Metaethik. Mittlerweile ist, angeregt durch kritische Einwände in dem von Peter Singer herausgegebenen Buch Does Anything Really Matter?, ein dritter Band erschienen, der insbesondere Parfits Thesen zur Metaethik weiterführt.

Die von Parfit behandelten Themen reichen vom Personenbegriff über Fragen der Normativität im Allgemeinen – also der Klärung des Status von normativen Gründen überhaupt, solche des Eigeninteresses eingeschlossen – bis hin zu grundlegenden Fragen der Moral. »Person«, »Normativität« und »Moral« sind daher die Schlagwörter, mit denen sich das Themenspektrum Parfits umschreiben lässt.

Dabei sind seine Argumente nicht nur schon für sich genommen komplex, sondern hängen auch in ganz unterschiedlicher Form zusammen: Während die vertretenen Thesen teils aufeinander aufbauen, werden zuweilen Überlegungen bewusst unabhängig von den andernorts erzielten Ergebnissen eingeführt und begründet oder gar gezielt aus konkurrierenden Prämissen abgeleitet.[4] 11Auf diese Weise gelingt es Parfit, mit Teilaspekten seiner Theorie auch Philosophen zu überzeugen, die manche seiner fundamentalen Überzeugungen ablehnen. Die nachstehende Darstellung von Parfits Denken muss deshalb nicht nur zahlreiche Aspekte ausklammern, sondern kann auch keine in sich geschlossene Theorie präsentieren. Sie nimmt ihren Ausgang bei der Theorie personaler Identität und ihren ethischen Implikationen (Abschnitt 1), behandelt daraufhin – grundlegende Annahmen der Gründe-Theorie einschließend – die normative Ethik Parfits (Abschnitt 2) und stellt schließlich das metaethische Fundament seiner Moralphilosophie dar (Abschnitt 3).

1. Die Theorie der personalen Identität

Als Parfit in den 1970er Jahren begann, sich mit dem Thema der personalen Identität auseinanderzusetzen, war der Personenbegriff bereits ein konsolidiertes und kanonisiertes Thema auf der philosophischen Agenda. Die Gründe für diese zentrale Stellung des Personenbegriffs innerhalb der analytischen Philosophie sind vielfältig. Ein Grund ist sicher, dass er mit zentralen Fragen unseres menschlichen Selbstverständnisses verbunden ist.[5] Es ging oft nicht um den Begriff der Person selbst, sondern man war optimistisch, dass eine Analyse dessen, was eine Person ist, uns zum Beispiel Aufschluss darüber gibt, wie das Leib-Seele-Verhältnis zu verstehen ist, wie sich das Rätsel der Willensfreiheit lösen lässt oder wie die Mensch-Tier-Unterscheidung konzipiert werden muss.

Den Diskussionskontext für Parfit bilden dabei vor allem zwei Arbeiten, die in ihrer Ausrichtung ganz unterschiedlich sind – Pe12ter Strawsons Individuals (1959) und Harry Frankfurts Freedom of the Will and the Concept of a Person (1971). Auf der einen Seite Strawson, der die zu seiner Zeit vorherrschenden naturalistischen und cartesischen Paradigmen kritisiert, die ihm zufolge Personen entweder als primär körperliche Wesen oder als geistige Entitäten verstehen. Personen seien aber weder als »beseelte Körper« noch als »körperliche Seelen« zu verstehen, sondern als schlicht nicht weiter analysierbare primitive Entitäten.[6] Auf der anderen Seite Frankfurt, der die Unanalysierbarkeitsthese von Strawson scharf kritisiert: Diese führe nach ihm dazu, dass wir einen uninformativen, weil nur negativ bestimmbaren Personenbegriff erhielten. Positiv übersehe Strawson die Möglichkeit, dass wir Personen durchaus analysieren können – nämlich als Wesen, die durch ihr spezifisches Wollen und die Möglichkeit der Bezugnahme auf sich selbst definiert sind.

In diese Debatte hinein unterbreitet Parfit seinen eigenen Vorschlag, den er samt seiner Implikationen in mehreren Anläufen darstellt. Eine erste Fassung findet sich bereits 1971 in seinem Aufsatz »Personal Identity«,[7] eine ausführliche Ausarbeitung erfährt sie aber erst im dritten Teil von RaP, insbesondere im zwölften Kapitel, »Why Our Identity Is Not What Matters«. Seitdem haben sich weitere Modifikationen ergeben. Die einschlägigste Zusammenfassung stellt der in diesem Band abgedruckte Beitrag »The Unimportance of Identity« von 1995 dar.

Methodisch orientiert sich Parfit an der Art von Begriffsexplikation, die seit den 1970er Jahren Einzug in die analytische Philosophie gehalten hat. Markant ist allerdings sein Vorgehen, unsere verbreiteten Vorannahmen über den Personenbegriff zu testen und auf ihre Haltbarkeit zu prüfen. Parfit bezieht sich hierbei auf fiktive Beispiele, welche es ihm erlauben, einzelne Aspekte unseres Personenverständnisses zu betonen, ohne auf die Komplexität der Gesamtsituation eingehen zu müssen – ein Vorgehen, das ihm nicht nur Lob eingebracht hat.[8]

13Inhaltlich wendet sich Parfit dabei nicht – wie noch Strawson und Frankfurt vor ihm – in synchroner Perspektive direkt dem Personenbegriff zu, sondern fragt zunächst nach den Bedingungen der diachronen (oder gleichbedeutend: transtemporalen) Identität: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die durch den singulären Term A zum Zeitpunkt t1 bezeichnete Person identisch ist mit der durch den singulären Term B zum Zeitpunkt t2 bezeichneten Person?

1.1 Die These der Bedeutungslosigkeit der Identität

Trotz aller Modifikationen im Detail sind Parfits wesentliche Gedanken über die Zeit hinweg dieselben geblieben.[9] Sie lassen sich anhand der im akademischen Diskurs bereits zum Slogan geronnenen Bedeutungslosigkeitsthese zusammenfassen: »Identity is not what matters in survival.«

Um Missverständnisse auszuschließen, sind zwei Hinweise unerlässlich:

Zum einen ist es wichtig, sich von der indikativischen Formulierung nicht täuschen zu lassen. Parfit möchte nicht nur ein ontologisch-metaphysisches Problem lösen, welches die Einheit der Person betrifft. Vielmehr geht es ihm auch darum, eine bestimmte Haltung zu diesem Problem zu empfehlen. Parfit behauptet nicht lediglich, dass Identität nicht dasjenige ist, worauf es beim Weiterleben ankommt. Vielmehr verbindet er den Slogan mit einer normativen Aufforderung zur Verhaltensänderung, die gegen den sich am Common Sense orientierenden philosophischen Mainstream gerichtet ist: Personale Identität sollte – anders als es generell getan wird – nicht dasjenige sein, worauf es uns ankommt, wenn wir weiterleben.

Zum anderen besagt die Bedeutungslosigkeitsthese weder, dass die Rede von personaler Identität sinnlos sei, noch, dass eine solche Identität niemals vorliegen könne. Tatsächlich wendet sich Parfit gegen eine bestimmte Art, die Frage nach der personalen Identität anzugehen: Eine bestimmte Identitätskonzeption sei bei der Suche nach einheitsstiftenden Kriterien für diachrone Identität rundum abzulehnen. Hierbei bilden die Simple Views seinen Hauptangriffs14punkt. Diese gehen – nach Parfit fälschlicherweise – davon aus, dass die diachrone Identität in der nicht weiter analysierbaren Identität eines Selbst besteht. Worin aber besteht ein solches »Selbst«? Parfit zufolge vertreten die Simple Views eine ontologische Interpretation, die das »Ich« als (materielle oder immaterielle) Substanz im Sinne eines eigenständigen Trägers von Eigenschaften deutet. Wesentlich für die diachrone Identität einer Person ist dann die Erhaltung dieses Trägers, etwa des Körpers oder der Seele, über die Zeit hinweg. Das ist eine sehr wirkmächtige Position, die viele Anhänger gefunden hat – von den traditionellen Materialisten über die Cartesianer bis zu den meisten Philosophen zur Zeit der Entstehung von Parfits Konzeption. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Parfits Vorschlag als Provokation aufgefasst wurde.

1.2 Die lockeanische Theorie der diachronen Identität

Was sind nun die Gründe für Parfits Ablehnung der Simple Views? Für ihn liegt der Hauptgrund darin, dass er einen eigenständigen substanzontologischen Träger nicht für notwendig hält, um die transtemporale Einheit der Person sicherzustellen. Um diese negative These zu belegen, werden die verschiedensten Gedankenexperimente vorgetragen. Eines der prominentesten findet sich zu Beginn von »The Unimportance of Identity«:

Beginnen wir mit einem Science Fiction-Szenario. Hier auf der Erde betrete ich einen Teletransporter. Wenn ich einen Knopf drücke, zerstört eine Maschine meinen Körper und registriert dabei den genauen Zustand all meiner Zellen. Diese Informationen werden per Funk zum Mars gesendet, wo eine andere Maschine aus organischem Material eine perfekte Kopie meines Körpers herstellt. Die Person, die auf dem Mars aufwacht, scheint sich daran zu erinnern, mein Leben bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich den Knopf drückte, gelebt zu haben, und ist auch in jeder anderen Hinsicht genau wie ich.[10]

Dieses Szenario soll nach Parfit zeigen, dass es logisch möglich ist, die Existenz der Kopie auf dem Mars als Weiterleben der fraglichen 15Person zu werten – und zwar, ohne dass ein »Ich« oder »Selbst« als Träger von Eigenschaften eine Rolle bei der Erklärung spielt. Was ist aber stattdessen das einheitssichernde Kriterium? Parfit vertritt einen an John Locke anknüpfenden psychologischen Reduktionismus, dem zufolge bestimmte psychologische Tatsachen und deren angemessene diachrone Verbindung konstitutiv für die personale Identität sind.[11] Psychologische Tatsachen zeichnen sich dadurch aus, dass sie beschrieben werden können, ohne einen eigenständigen Träger vorauszusetzen oder ausdrücklich zu behaupten, dass die Erfahrungen im Leben dieser Personen vom »Selbst« gemacht werden.[12]

Die verschiedenen Formen der relevanten Verbindungen bestimmt Parfit nun wie folgt: Zum einen muss zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Bewusstseinszuständen X und Y derselbe psychologische Gehalt zukommen, zum anderen müssen sie eine gewisse Kontinuität aufweisen. Parfits Überlegung ist hier, dass diese Kontinuität genau dann vorliegt, wenn es eine ausreichend große Anzahl von direkten psychologischen Verbindungen gibt und diese Verbindungen überlappende Ketten bilden. So sind etwa meine jetzigen psychologischen Zustände aus den vorhergehenden entstanden und diese wiederum teilweise aus vorhergehenden. Man kann daher überlappende Ketten solcher Verbindungen ausmachen, die zeigen, dass ich mit der Person identisch bin, die ich heute Morgen war, obwohl möglicherweise nur sehr wenige direkte Verbindungen zwischen meinen jetzigen psychischen Zuständen und denen von heute Morgen bestehen.[13]

16Das allein ist sicherlich schon eine recht diskutable Position, die den »Sturm« der Parfit-Rezeption erklären könnte.[14] Ein weiterer Grund für Parfits Prominenz in der Debatte ist aber auch darin zu sehen, dass er sich nicht mit der Entwicklung einer metaphysisch-ontologischen Position begnügt, sondern, wie oben angedeutet, zugleich auch lebenspraktische normative Konsequenzen daraus ableitet. Eine solche betrifft etwa unseren Umgang mit dem Tod, der sich durch eine reduktionistische Identitätskonzeption verändern würde. Das macht Parfit an einer Variation des Teletransporter-Beispiels deutlich.[15] In dieser kommt es bei der Replikation zu einer Panne, sodass die ursprüngliche Person nach dem Kopiervorgang nicht zerstört wird. Es gibt also zweimal dieselbe Person, eine auf der Erde und eine auf dem Mars. Da nun zwei Personen in psychologischer Kontinuität mit der früheren Person stehen, könne keine eindeutige Identitätsbeziehung mehr angegeben werden; dies sei aber kein Manko, da wir – so die Bedeutungslosigkeitsthese – dennoch alle relevanten Tatsachen über die Welt kennen. Allerdings ist, so das Beispiel weiter, das Herzkreislaufsystem des Originals beim Kopieren beschädigt worden, so dass diese Person in den folgenden Tagen sterben wird. Das aber sollte diese laut Parfit nicht sonderlich beunruhigen. Sie sollte vielmehr gelassen bleiben, denn auf dem Mars wird es eine Fortsetzung ihres Lebens geben (wenn auch nicht sie es leben wird und es womöglich noch nicht einmal dasjenige Leben ist, das sie bisher gelebt hat). Es ist ja nach Parfit die psychologische Kontinuität, welche das Weiterleben sichert, und diese Persistenz wird durch den Kopiervorgang gesichert. Entsprechend gilt: »Zerstört und repliziert zu werden ist in etwa so gut wie das gewöhnliche Überleben.«[16] Parfit zufolge impliziert die Bedeutungslosigkeitsthese also eine gewisse Gelassenheit gegenüber der eigenen Sterblichkeit.[17]

17Eine weitere normative Konsequenz sieht er in der Einstellung gegenüber den Mitmenschen. In einer berühmt gewordenen Passage schreibt er über die Implikationen der Bedeutungslosigkeitsthese:

Ist die Wahrheit bedrückend? Einige dürften das so sehen. Ich aber finde sie befreiend und tröstlich. Als ich annahm, dass meine Existenz eine eigenständige Tatsache darstellte, schien ich in mir selbst gefangen. Meine Leben schien mir wie ein Glastunnel, durch den ich mich jedes Jahr schneller fortbewegte und an dessen Ende Dunkelheit wartete. Seit ich meine Sichtweise geändert habe, sind die Wände meines Glastunnels verschwunden. Ich lebe jetzt unter freiem Himmel. Es besteht immer noch ein Unterschied zwischen meinem Leben und dem anderer Menschen. Aber dieser Unterschied ist geringer geworden. Mein mir noch verbleibendes Leben kümmert mich nun weniger, das Leben der anderen dagegen mehr.[18]

Im Ergebnis läuft Parfits Slogan von der Bedeutungslosigkeit unserer Identität also auf eine Einstellungs- und Verhaltensänderung hinaus, die unsere eigene Existenz und die Beziehung zu anderen betrifft – und diese Neuorientierung hält er, im Sinne der normativ-ethischen Lesart von »what matters«, für einen Fortschritt, den es gemäß seiner normativen Theorie gutzuheißen gilt: Es kann vernünftig sein, das Wohlergehen anderer dem eigenen Vorteil vorzuziehen (siehe insbesondere Abschnitt 2.4).

181.3 Die Rezeptionsgeschichte der Theorie personaler Identität

Schon vor der Veröffentlichung von RaP wurden Parfits Thesen zur diachronen Identität breit und kontrovers diskutiert. Mit der Buchveröffentlichung von 1984 gewann die Diskussion aber stark an Lebhaftigkeit und thematischer Breite. Es wurden mitunter sehr detaillierte Auseinandersetzungen über einzelne Theoriebausteine geführt, und die Rezeptionsgeschichte ist entsprechend umfangreich.[19] Wir beschränken uns daher auf die Darstellung einiger ausgewählter Repliken: Zum einen auf solche, die die internen Verflechtungen der Theoriebausteine in Parfits Denken deutlich machen, zum anderen auf solche, die Anlass für eine konstruktive Weiterarbeit gegeben haben – sei es für Parfit selbst, sei es für andere Autoren.

In methodischer Hinsicht haben einige Kritiker bereits früh auf eine Engführung in der von Parfit präsentierten Grundkonstellation hingewiesen. So haben Paul Snowdon und Eric Olson angemerkt, dass Parfit nur unzureichend auf den Animalismus eingeht, welcher den Organismusbegriff in den Mittelpunkt stellt und den Begriff der biologischen Kontinuität als Kriterium in Anschlag bringt.[20] Zu dieser neueren Alternative hat sich Parfit erst in der jüngeren Vergangenheit geäußert, insbesondere in dem hier vorliegenden Aufsatz »We are not Human Beings« von 2012. Einigermaßen überraschend ist hierbei allerdings seine Konklusion: Parfit verteidigt dort nämlich nicht seine ursprüngliche lockeanische Position, sondern präsentiert eine gänzlich neue Variante: »Einer anderen, besseren Sichtweise zufolge sind wir keine Tiere oder menschlichen Lebewesen. Wir sind das, was McMahan die bewussten, denkenden und kontrollierenden Teile menschlicher Lebewesen nennt. Wir können dies die Verkörperter-Teil-Position nennen.«[21] Parfit schlägt mithin nun doch eine substantielle En19tität als zentrales Element für personale Identität vor und nennt sie auch beim Namen: »All die für uns charakteristische mentale Aktivität hängt von unserem Zerebrum ab.«[22] Freilich meint Parfit, dass es sich nur um einen kleinen »Kunstgriff« handelt, der seine grundsätzlich lockeanische Position (samt ihren lebenspraktischen Konsequenzen) nicht in Mitleidenschaft zieht. Ob er sich damit aber nicht andere Herausforderungen aufbürdet, die gegebenenfalls noch schwieriger zu meistern sind, und ob das Verhältnis zu den anderen Bausteinen seiner Theorie nicht doch problematisch sein könnte, ist Gegenstand der gegenwärtigen Forschung.[23]

Darüber hinaus wurden auch eine Reihe von metatheoretischen Positionen diskutiert. Besonderes Interesse erregte hierbei immer wieder Parfits Verknüpfung von metaphysischen und ethischen Thesen. Einer einschlägigen Entgegnung Ernest Sosas nach ist es eine Sache, etwas über die transtemporalen Einheitsbedingungen der Person zu wissen; etwas anderes hingegen, wie man sich zu diesen metaphysischen Einsichten verhalten soll: »Die Logik allein wird nicht bestimmen, wie wir uns entscheiden.«[24] Das ist sicherlich erst einmal nur eine Behauptung. Es zeigt aber, dass noch nicht alle Details von Parfits Theorie der diachronen Identität geklärt sind. Entweder wäre an dieser Stelle eine metaphilosophische Absicherung vonnöten, die die direkte Verbindung von Metaphysik und Ethik begründet – oder es wäre zu rechtfertigen, warum die von ihm lancierte Einstellungsänderung für gut gehalten werden sollte.

Hierbei handelt es sich in jedem Fall um eine normative Frage, die ausschließlich im Rahmen einer ethischen Theorie zu beantworten ist. Nun hat Parfit in Teilen von RaP gerade eine solche ethische Theorie vorgelegt. Aber reicht das aus? Das haben die Kritiker wiederum bestritten. So hat Peter Unger darauf hingewiesen, dass die veränderte Einstellung möglicherweise einige Vorteile bringt – die Linderung von Todesangst und die Abkehr vom Egoismus –, zugleich aber einige nicht zu vernachlässigende Kosten aufweist, welche er unter dem Titel »Fokusverlust« [loss of focus] in den Kapiteln sieben bis neun seines Buchs Identity, Consciousness and Value (1990) abhandelt. Aber wie auch immer man diese Abwägung vornimmt, deutlich geworden ist in der Diskussion, dass die Über20zeugungskraft der normativen Implikationen keineswegs nur von metaphysischen Überlegungen gespeist wird, sondern ihrerseits in die normativ-ethische Theorienbildung weist.

Eine weitere zentrale These Parfits, die immer wieder in die Kritik geraten ist, betrifft die Behauptung, dass die psychologische Kontinuität hinreichend für die Zuschreibung von diachroner Identität ist. Hierbei handelt es sich sicherlich um den zentralen »Fluchtpunkt«, von dem ausgehend Parfit seine Theorie der Person entwickelt. Entsprechend umfangreich ist auch die Rezeption ausgefallen. In ihrer Struktur sind die vielen Kritiklinien aber weitestgehend einheitlich: Es geht immer darum, auf die eine oder andere Weise die Kontraintuitivität von Parfits lockeanischer Theorie herauszuarbeiten.

Die Beispiele und Gedankenexperimente, die das zeigen sollen, sind recht heterogen. Greifen wir ein Beispiel heraus, das in der Rezeption immer wieder aufgenommen wurde und auch für die weitere Theoriebildung Parfits von Bedeutung war, das insbesondere von Mark Johnston vorgestellte Beispiel der singular goods.[25] Hierbei handelt es sich um Arten von Projekten, bei denen es nicht nur darauf ankommt, dass sie realisiert werden, sondern auch, dass eine bestimmte Person dies tut. Wer seinen Traumpartner heiraten möchte, dem ist nicht nur daran gelegen, dass der Traumpartner jemanden heiratet, sondern dass er selbst dieser jemand ist. Das kann Parfit jedoch nicht zugestehen. Für ihn ist die psychologische Kontinuität hinreichend, um die diachrone Identität zuzuschreiben. Es reicht daher aus, dass der Heiratswillige mit dem Individuum, das tatsächlich geheiratet wird, in großen Teilen die gleichen psychologischen Tatsachen aufweist. Das führt aber zur kontraintuitiven Ansicht, dass es singular goods nicht gibt.

Sollten wir bei solchen Implikationen nicht eher die Theorie aufgeben, als unsere alltagspraktisch verankerte Intuition zu revidieren? Diese Frage würde Johnston sicherlich bejahen, Parfit hingegen würde, wie wir an seinen Beispielen ablesen können, mit dieser Kontraintuitivität kaum ein Problem haben. Gleichzeitig muss man ihm zugutehalten, dass er weitere Überlegungen aus der Rationalitätstheorie anführt, um seine Ansicht zu untermauern. So versucht er gerade im zweiten Teil von RaP, unabhängig von sei21ner Theorie personaler Identität nachzuweisen, dass alle rationalen Einstellungen aus einer unpersönlichen Perspektive stammen, die keine Referenz auf das Subjekt enthalten. Insofern beruht die Bezugnahme auf singular goods laut Parfit nicht nur auf einer falschen Vorstellung von diachroner Identität, sondern ist zusätzlich noch schlicht arational, da es sich nicht um unpersönliche Gründe handelt. Allerdings versteht sich auch dieser rationalitätstheoretische Theoriebaustein keineswegs von selbst, was sich an der mitunter harschen Kritik gezeigt hat.[26] Parfit selbst hat auf diese Repliken mittlerweile reagiert und in OWM einen neuen Versuch unternommen, seine Theorie praktischer Gründe weiter zu explizieren und damit zumindest implizit die offene Flanke zu verteidigen.