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Über dieses Buch:

Türkisfarbene Augen, ein bezauberndes Lächeln – und um Hauptkommissar Liebermann ist es geschehen. Einen Tag später trifft er die schöne Fremde zu seinem Schrecken auf dem Foto einer Vermisstenanzeige wieder. Die Journalistin Charlotte Olbinghaus ist spurlos verschwunden! Obwohl krankgeschrieben, beginnt Liebermann fieberhaft zu ermitteln. Dabei kreuzt sein Weg immer wieder den eines grauen, einohrigen Katers, der ihn zu verfolgen scheint: Es ist Serrano – der heimliche Herrscher des Viertels, dessen Liebste sich ebenfalls gerade in Luft aufgelöst hat. Serrano erkennt sofort einen Zusammenhang zwischen den beiden Vermisstenfällen. Doch er hat alle Pfoten voll zu tun, es dem begriffsstutzigen Kommissar begreiflich zu machen …

Über die Autorin:

Nach ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin studierte C. M. Anlauff Archäologie, Geschichte und Literaturwissenschaft in Berlin und Potsdam. 2005 erschien ihr Debüt, seitdem veröffentlichte sie neben Romanen auch Hörspiele und ein Theaterstück. Für ihren ersten Krimi Katzengold wurde sie 2010 mit dem Deutschen Katzenkrimipreis ausgezeichnet. C. M. Anlauff lebt in Potsdam.

C. M. Anlauff veröffentlichte bei dotbooks bereits

Katzenmond – Kater Serrano ermittelt

Katzenwut – Kater Serrano ermittelt

Die Autorin im Internet: http://www.christineanlauff.de/

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eBook-Neuausgabe Juni 2017

Copyright © der Originalausgabe 2010 bei Gustav Kiepenheuer; Gustav Kiepenheuer ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Dariush M. (Allee), Inozemtsev Konstantin (Katze)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mh)

ISBN 978-3-96148-055-5

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C. M. Anlauff

Katzengold

Kater Serrano ermittelt

dotbooks.

Für meine Tochter Nico
und Semmel, den stolzesten Kater aller Zeiten

Kapitel 1
Freitag

Um 14 Uhr 03 öffnete sich im vierten Stock eines Hauses in der Ossietzkystraße ein Fenster, und eine Katze flog heraus.

Sie landete unbeschadet auf den Bohlen eines Baugerüsts, schüttelte sich und preschte abwärts. Unten angekommen, schnüffelte sie eine Prise Mailuft. Dann wandte sie sich nach rechts und verließ mit steil erhobenem Schwanz ihr Revier.

Sie passierte eine Kirche, zwei Kinderwagen mit dazugehörigen Waden, drei Hundehaufen und wich im letzten Moment einem Fahrrad mit Anhänger aus, ehe sie an eine Straße gelangte, die nach den Geschwistern Scholl benannt war.

Die Katze dagegen war nach einer Kaiserin benannt: Aurelia. Sie wusste nicht, warum. Sie wusste auch nichts über Ossietzky oder die Standhaftigkeit der Scholl-Geschwister. Mit Aurelias Allgemeinbildung war es nicht weit her, was an ihrer Jugend, aber auch an einem gewissen Desinteresse menschlichen Themen gegenüber lag. Serrano, der Kater des Fleischers, wartete auf sie, das war alles, was zählte.

»Spinnst du?«, zischte Thekla. »Weißt du, wie spät es ist?« Kommissar Hendrik Liebermann fand, dass man einen Menschen, den man einmal geliebt hatte, nicht so begrüßen sollte.

»Ich war beim Arzt.«

»Und der hat dich gezwungen, dein Handy auszuschalten, ja? Mein Zug geht in zwanzig Minuten! In ZWANZIG! Seit einer Stunde renne ich wie ein Tiger durch die Wohnung. Ich war kurz davor, meine Mutter anzurufen. Nur weil dir ausgerechnet heute eingefallen ist, zum Arzt zu gehen. Es gibt ein Wort, das dir bei der Polizei wahrscheinlich noch nie untergekommen ist. Willst du’s mal hören? Es heißt Verantwortung!«

»Entschuldige«, sagte Liebermann. »Aber jetzt bin ich ja da.« Thekla lief rot an. »Zwei Jahre!«, fauchte sie. »Und nichts gelernt.«

In der Tür zum Kinderzimmer erschien ihre Tochter. »Papa!« Ihr Schrei ging in einen Anlauf über, der in seinen Armen endete. Liebermann unterdrückte ein Stöhnen. »Hallo, Schatz, wie …«

»Mir geht’s gut.«

»Schön«, sagte Liebermann und nahm sich vor, die Begrüßung seiner Tochter zukünftig etwas abwechslungsreicher zu gestalten. »Und hast du dir schon überlegt, was wir zwei in den nächsten Wochen alles anstellen?«

»Ich will zu Knut in den Zoo!«

»Knut?«

»Das ist ein Eisbär«, sagte Thekla.

»So. Na gut, gehen wir zu Knut. Und hinterher essen wir Eis!«

Thekla wurde eine Nuance dunkler.

»Ich hätte dich gern noch in den Haushalt eingeführt«, sagte sie frostig. »Aber ich muss los. Miri zeigt dir alles.« Liebermanns Tochter strahlte.

»Ich hab ein wenig auf Vorrat gekauft«, fuhr Thekla fort. »Saft und Kartoffeln hauptsächlich. Sie sind im Keller, der Schlüssel hängt am Brett. Der blaue neben dem Autoschlüssel. Es wäre übrigens schön, wenn ich den Wagen bei meiner Rückkehr hier und nicht in irgendeiner Werkstatt finden würde.«

»Das war ein Auffahrunfall«, sagte Liebermann. »Und der Typ hinter mir ein Idiot.«

Thekla zuckte die Achseln. »Wenn ich mich richtig erinnere, befindet sich so gut wie jeder hinter dir, und alle sind Idioten. Manche finden sich damit ab, andere nicht. Was hast du eigentlich?« Sie schlüpfte in einen leichten Mantel. Liebermann bemerkte, dass sie schlanker geworden war. Er überlegte, ob er es ihr sagen sollte. Aber da er die Folgen eines solchen Kompliments nicht abzuschätzen vermochte, murmelte er: »Bandscheibe.«

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Schlimm?«

»Es wird wieder. Ich bin zwei Wochen krankgeschrieben.«

Thekla hielt im Knöpfen inne. »Du warst noch nie krankgeschrieben.«

»Nein.«

»Dann ist es schlimm. Und ausgerechnet jetzt.«

»Ich habe mehr Zeit für Miri«, sagte Liebermann.

Sie sah ihn zweifelnd an. Ob seiner Fähigkeiten als Vater, Mann oder Lebewesen überhaupt, blieb unklar. Dann seufzte sie und schloss Miri in die Arme. Liebermann erhielt einen Streifkuss, der knapp an seinem Ohr vorbeiging.

»Trink nur Wasser aus Flaschen!«, sagte er. »Kein Leitungswasser. Davon soll man alles Mögliche bekommen.«

»Kauf nicht beim hiesigen Fleischer«, sagte Thekla. »In den Koteletts dort wurden Knochen gesichtet.« Sie lächelte schief. »Ansonsten: Willkommen auf dem friedlichsten Flecken der Erde. Wir haben dir eine Pinnwand gekauft, damit du unsere nicht benutzen musst. Ein Zettel ist schon dran, der dich daran erinnert, Miri nächstes Wochenende zu meiner Mutter zu bringen. Sie will mit ihr ins Kinderballett. Und falls es mit deiner Bandscheibe schlimmer werden sollte, ruf sie bitte auch an!«

Sie griff nach ihrem Koffer. »Außerdem …«, sagte sie. Dann schüttelte sie den Kopf und ging.

Liebermann lauschte, bis die Haustür ins Schloss gefallen war. Miri schmiegte sich an seine Beine. »Mag Mama dich noch?«

»Ich weiß nicht«, sagte Liebermann. »Ich denke, schon.«

»Magst du sie noch?«

»Ich? Doch, ich glaube.«

»Heiratet ihr dann noch mal?«

Diese Frage stellte Miri mit hartnäckiger Regelmäßigkeit. Und genauso regelmäßig antwortete Liebermann: »Zum Heiraten reicht es nicht, wenn man sich mag.« Diesmal fügte er hinzu: »Außerdem glaube ich nicht, dass sie mich noch will, wenn sie zurückkommt.«

»Warum?«

»Weil sie in Tibet einen anderen Mann kennenlernen wird, der sich nicht so viel mit ihr streitet wie ich. Er heißt Buddha.« Er strich Miri über das Haar. Es war dicht und dunkel wie seines, nur den Wirbel über der Stirn hatte sie von Thekla.

»Den will ich nicht«, sagte Miri.

»Ach, er ist eigentlich ganz nett, nach allem, was ich über ihn gehört habe.«

»Und du, heiratest du dann eine andere Frau?«

»Willst du das denn?«

Sie überlegte eine Weile. »Nö.«

Liebermann wurde von einer Woge der Zärtlichkeit überschwemmt. Er hätte seine Tochter gern hochgehoben und geküsst, aber ein warnendes Ziehen im Rücken hielt ihn davon ab. »Da ich schon bis über beide Ohren in dich verliebt bin«, sagte er lächelnd, »steht das wohl auch außer Frage. Und jetzt zeig mir mal unser Reich!«

In den nächsten zwanzig Minuten begutachtete er ein schlauchartiges Kinderzimmer, ein Schlafzimmer mit Doppelbett, auf dem sich zwei Decken und Kissen fanden, was ihn zu der Frage veranlasste, ob Thekla sich ohne sein Wissen neben Buddha noch einen Gefährten hielt. Er drückte sich etwas diplomatischer aus, aber Miri verstand ihn nicht. Also nein, sagte sich Liebermann, irgendwie erleichtert. Nach der Küche und einem orientalisch angehauchten Wohnzimmer endete die Führung in einem Raum, dessen rechte Wand vom Boden bis zur Decke mit Kisten vollgestapelt war. Theklas letzter Umzug, der dritte nach ihrer Trennung, lag schon über ein halbes Jahr zurück, aber sie hatte es noch nicht geschafft oder, vermutete Liebermann, über sich gebracht, die materiellen Beweise ihrer Vergangenheit in die Gegenwart zu überführen. Schon in den vorherigen Wohnungen hatten die Kisten unberührt auf den nächsten Wechsel gewartet. Und er ahnte, dass diese Bleibe hier nicht die letzte war. An der gegenüberliegenden Wand stand eine bezogene Bettcouch. Bei ihrem Anblick bog sich Liebermanns Rückgrat zu einem S.

»Ich nehme an, das hier ist für mich bestimmt.«

»Ja«, sagte Miri strahlend.

»Gut. Ich nehme es zur Kenntnis und verspreche, es nicht schmutzig zu machen.« Darauf marschierte Liebermann in den Flur, schnappte sich seine Tasche und trug sie ins Schlafzimmer.

Es gab verschiedene Arten von Schlaf: das leichte Dämmern unter gesenkten Lidern, vorzugsweise auf der Treppe zum Hinterhof, den schwarzen Schlaf, der leider nie lang war, und das, was Serrano das Zweite Leben nannte. Das Zweite Leben war ihm der liebste von allen. Denn es bestand nicht nur aus einem verschwommenen Wegdriften. Das Zweite Leben barg Möglichkeiten. Die einer fetten Taube ebenso wie die einer Reise in ein Nest warmer, beweglicher Knäule und weicher Tritte in den Bauch und die des Geruchs von Milch. Man wusste nie, was einen erwartete, aber es war fast immer angenehm.

Als Serrano diesmal erwachte, war nichts angenehm. Und weder erinnerte er sich an einen Traum, noch fühlte er sich erfrischt. Er lag auf einer ihm unbekannten Decke, die schlecht roch. Nach Schimmel vielleicht. Serrano versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal Schimmel gerochen hatte. Nach einer Weile gab er es auf und konzentrierte sich stattdessen auf den schmerzenden, steifen Klumpen unterhalb seines Kopfes.

Obwohl es überall zu sitzen schien, hatte er den Eindruck, dass sich die Quelle des Übels zwischen seinen Hinterbeinen befand. Er zog sie an, und ihm wurde schwarz vor Augen.

Er fragte sich, was passiert war. Irgendetwas musste schließlich geschehen sein, dass er schmerzverkrümmt auf dieser stinkenden Decke gelandet war. Beiß die Zähne zusammen, und denk nach!

Nach einer langen Weile endlich gab sein trübes Gedächtnis ein Schnitzel frei. Ein Frühstücksschnitzel, ungewürzt und angebraten. Derartiges bescherte ihm der Fleischer manchmal nach erfolgreichen Rattenjagden. Aber falls der Anlass für das Festmahl auch diesmal eine Ratte war, so hatte Serranos Erinnerungsvermögen sie vollständig getilgt. Zusammen mit allem, was danach kam. Hatte er seine Revierrunde gemacht? Cäsar den versprochenen Denkzettel verpasst? War Aurelia schon da gewesen?

Ihn überkam eine leichte Unruhe. Für gewöhnlich besuchte ihn Aurelia am frühen Nachmittag. Seltener auch abends, wenn die Alte, die ihr Haus bewachte, schlief. Serrano hatte nach einem Attentat mit einem Küchenmesser, das nur knapp an seinem verbliebenen Ohr vorbeigesegelt war, von Gegenbesuchen Abstand genommen. Die Alte hasste Katzen, und alle Katzen der Gegend hassten die Alte und bedauerten Aurelia dafür, dass sie in ihrem Dunstkreis leben musste. Aber weiter. War Aurelia, oder war sie nicht?

Mühsam drehte Serrano den Kopf. Jetzt erkannte er, wo er sich befand. Im Schlafzimmer des Fleischers. Das war ungewöhnlich. Bisher hatte der Fleischer ihn nur einmal in dieses Zimmer gelassen. Nachdem die stinkende Töle von diesem Sänger Serrano ein Ohr abgebissen hatte. War inzwischen tot, die Töle, überfahren. Dem Sänger waren nur ihre Flöhe geblieben. Serrano krümmte sich zu einem Haken. Mehr war nicht drin. Die Mühen der letzten Viertelstunde hatten ihn erschöpft. Er überlegte, ob er sich wenigstens ein kurzes Zweites Leben gönnen sollte. Nein, erst musste er es wissen. Was war nach dem Schnitzel passiert? Nicht Cäsar, auch nicht Aurelia. Was?

Die Sonne schien gleißend, beinahe weiß in das Schlafzimmer. Und dann kam etwas, ein Bild, herausgelockt, vom Gegenteil: etwas Dunkles, oder doch fast, das in Serrano ein dumpfes Gefühl von Panik heraufbeschwor. Ohrenbetäubende Stakkatogeräusche, unterbrochen vom Fluchen des Fleischers, dann verhältnismäßige Ruhe, dann eine weibliche Menschenstimme. Er hatte sie gemocht, diese Stimme. Er schwor, dass ihre Inhaberin es war, die ihn aus dem Dämmer seines Käfigs befreit hatte. Braune Augen, eine zarte Hand, die ihn hinter dem verbliebenen Ohr kraulte, und: aus.

Starr wie eine der gefrorenen Schweinehälften des Fleischers lag Serrano auf der Decke. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein! Und vor allem nicht jetzt!

Mit einer Anstrengung, die ihn an die Grenze seiner Kraft trieb, schob er den Kopf zwischen seine Hinterläufe und erstarrte. Dort, wo einmal die Reichsäpfel seines Reviers geprangt hatten, hingen zwei armselige kleine Beutel. Es hatte ihn erwischt.

Einige Straßen weiter diskutierte Liebermann mit seiner Tochter den Nachmittag. Sie wollte sofort und auf der Stelle zu Knut. Er erklärte ihr, dass Knut vermutlich gerade seinen Mittagsschlaf hielt, was sie bezweifelte. Da Liebermann sich im Biorhythmus des Nordpols nicht wirklich auskannte, versuchte er es anders. Er bestand darauf, vor dem Ausflug Kaffee zu trinken. »Was meinst du, was passiert, wenn wir vor dem Eisbärenkäfig stehen und mein Magen knurrt?«

»Was denn?«

»Knut wird mich für seine Mutter halten. Oder noch schlimmer, für einen Feind. Er wird versuchen, mich in seinen Käfig zu ziehen, und dann – ade ihr schönen zwei Wochen mit Miri. Von nun an wirst du deinen Vater nur noch im Zoo besuchen können.«

Miri lachte.

»All das Eis, das ungekauft bleibt!«, klagte Liebermann. Miri spitzte die Ohren. »All der Kuchen. Du wirst zur Oma ziehen müssen, weißt du noch, wo sie wohnt?«

»In der Kavalierstraße«, sagte Miri beflissen. »Na gut, aber morgen gehen wir wirklich.« Liebermann atmete auf.

Die Wahrheit war, dass es ihn keine halbe Stunde mehr auf den Füßen gehalten hätte. Während er sprach, lag er auf dem Wohnzimmerteppich, ein Sofakissen im Rücken, und winkelte abwechselnd die Beine an, wie ihm der Arzt empfohlen hatte. Die Wahrheit war, dass er schleunigst eine Apotheke brauchte, keinen Eisbären.

»Abgemacht, morgen«, sagte er. »Dann deck du schon mal den Tisch, während ich schnell zum Bäcker springe.«

Miri sah kritisch auf ihn herunter. Und Liebermann ersetzte das Wort »springen« beschämt durch ein bescheideneres »gehen«.

Irgendwann, er hatte es aufgegeben, auf das Fenster zu achten, hörte Serrano einen Ruf von der Straße her. Er wartete den nächsten ab, ehe er zur angelehnten Tür wankte, die Treppe hinunter, am Büro des Fleischers vorbei.

Die Fleischerin stockte, als er sie passierte. »Serrano! So fix wieder auf den Beinen?«

Er ließ sie hinter sich. Er verstand ohnehin nur seinen Namen. Aber er roch ihr schlechtes Gewissen. Stufe um Stufe kämpfte er sich die Hintertreppe hinunter. Draußen empfing ihn die warme Hand des Frühlings. Mit schmerzenden Lenden stakste er durch den Hof und in die Einfahrt der Fleischerei. Den Lieferwagen nahm er kaum wahr, wohl aber die goldenen Augen darunter.

Er roch ihr Fell, und als Aurelia ihn mit einem Nasenstüber begrüßte, wusste er, dass er da war, der Augenblick, auf den sie so lange gewartet hatten.

Aber in ihm blieb es beängstigend ruhig. Er hatte Dutzende solcher Momente erlebt, und immer war er höchst erregt gewesen. Angesichts des satten Dufts der Fruchtbarkeit war er im Bruchteil einer Sekunde von Serrano, dem Kater des Fleischers, zu Serrano, dem Herrscher des Viertels, geworden: Bei Gott, und er hatte geherrscht, dass seine Königinnen darüber den Verstand verloren hatten. Wieder und wieder hatte er sie beglückt, bis sie ermattet, aber zufrieden voneinander abgelassen hatten und jeder seiner Wege gegangen war.

Bei Aurelia hatte es ebenso und auch ganz anders laufen sollen. Aurelia war noch Jungfrau. Sie war unerfahren, aber klug, auch wenn es ihr hinsichtlich der Menschen noch an Bildung mangelte. Was das betraf, hatte Serrano angefangen, sie zu unterrichten. Denn – und das war ihm bereits bei ihrer ersten Begegnung klargeworden – er liebte sie.

Er liebte sie immer noch.

»Hallo«, sagte er.

Aurelia rieb sich an seinem Hals. Ihre Schnurrhaare vibrierten. »Ich habe heute Nacht von Kätzchen geträumt. Vier Kätzchen. Zwei gestreifte und zwei rote, so süß und so stolz auf ihren Vater.«

Behutsam leckte Serrano ihre Nase.

»Euer Vater ist der König des Viertels, habe ich zu ihnen gesagt.«

»Aurelia.«

Sie begann sich von neuem an ihm zu reiben.

»Ich liebe dich.«

Sie lachte und stupste ihn in den Bauch. Unwillkürlich fuhr Serrano zusammen. »So empfindlich?«, gurrte sie.

Der Geruch ihrer Fruchtbarkeit war kaum zu ertragen. Aber anders als sonst löste er in Serrano nur eine Mischung aus Mitleid und … Ekel aus. Er hasste sich dafür.

»Lass uns ein bisschen am Fluss entlanglaufen«, sagte er matt.

Augenblicklich ließ sie von ihm ab. »Wozu?«

»Nur so. Wir könnten Enten …«

»Die Enten sind mir scheißegal, Serrano!«

»Ja. Trotzdem. Ich …«

»Begreifst du denn nicht? Es ist so weit! Ich will, dass du der Vater meiner Kinder wirst.«

»Aurelia«, sagte Serrano sanft. »Eine Vaterschaft ist nichts, was man so einfach vom Zaun bricht.«

Wie vom Blitz getroffen sprang Aurelia zurück. »Ach nein? Fängt der göttliche Serrano plötzlich an, seine Kinder zu zählen? Wiegen die Bälger der fetten Maja auf einmal mehr als unsere?«

»Nein.« Er wich ihrem Blick aus. Ihre Kinder wären ihm mehr wert gewesen als alle, vielleicht hätte er einem von ihnen in ferner Zukunft sogar das Viertel abgetreten. Aber es gab nichts mehr abzutreten, und die Trauer darüber, zusammen mit der Wut, dass ein dahergelaufener Fleischer es so festgelegt hatte, schlug über ihm zusammen. »Wir müssen uns unterhalten.«

Über Aurelias goldenes Fell ging eine Welle. »Ich will nicht … ich kann mich nicht unterhalten!«

»Ja … ich weiß.«

»Also!«

Ihre Zunge traf ihn hart am Kinn, während ihr zarter Bauch das Pflaster des Bürgersteigs streifte. Es brach ihm das Herz.

»Hör auf damit, ich bitte dich.«

Mit einem Satz war sie wieder auf den Pfoten. »Du hast eine andere!«

»Was? Nein, ich habe keine …«

»Denkst du, ich sehe nicht, wie dieses schielende kleine Biest seit Tagen um die Fleischerei streicht?«

»Wen meinst du?«

»Du weißt ganz genau, wen. Diesen schwarzen, struppigen Hungerhaken.«

»Krümel?«, fragte Serrano baff.

»Du hast es ihr gemacht, oder?«

»Sei nicht albern! Krümel ist meine Tochter.«

Aurelia lachte höhnisch auf. »Hast du dabei auch daran gedacht?«

»Hör auf!«, befahl Serrano.

Aurelia bleckte ihre Zähne, zwei Reihen spitzer, weißer Stifte. Sie zitterte am ganzen Körper. »Na gut, wie du willst«, sagte sie leise. »Dann höre ich auf.«

Ihre Schnauze stieß vor, und ehe Serrano begriff, was vor sich ging, splitterte etwas in seinem Nacken. Im nächsten Augenblick war Aurelia in der Einfahrt verschwunden.

Als Serrano um die Ecke bog, verließ die Alte aus Aurelias Haus eben die Fleischerei. Sie schickte dem vorbeifliegenden Goldschweif einen Fluch nach und hob drohend den Stock. Aber dann überlegte sie es sich anders und ließ ihn auf den Rücken eines Mannes niedergehen, der sich neben ihr an einer Laterne abstützte.

Liebermann starrte die Alte durch einen Tränenschleier an.

»Na also«, knurrte sie. »Geht doch.«

»Bitte?«

»Brust raus, Po rein. Wer den Hintern rausstreckt, will eins draufhaben, hat mein Vater immer gesagt.« Liebermann war, als hätte der Stock ihn endgültig in zwei Hälften geteilt. »Jemand könnte auch einen anderen Grund dafür haben, den Hintern rauszustrecken«, murmelte er. »Guck mal einer an! Welchen denn, zum Beispiel?«

»Schmerzen.«

»Schmerzen!«, wieherte die Alte. »Sehen Sie mich vielleicht den Hintern rausstrecken? Kommen Sie mal in mein Alter, dann wissen Sie, was Schmerzen sind. Und bis dahin: Brust raus, Po rein. Wegen Leuten wie Ihnen haben wir den Krieg verloren.«

Sie zog ihren Kittel straff, wie um zu demonstrieren, dass sie nicht gewillt sei, noch einer Kapitulation beizuwohnen, und humpelte von dannen. Erschüttert sah Liebermann ihr nach. Das war also der friedlichste Fleck der Erde.

»Was ist ein Kittel?«, fragte Miri.

»Eine Art Schürze. Dieser hier war blau.« Oder grau? Liebermann musste zugeben, dass er kaum auf die Kittelfarbe seiner Peinigerin geachtet hatte. Er erinnerte sich nur an ein paar große Brandlöcher am Saum.

Miri pulte eine Erdbeere aus ihrem Kuchenmatsch. »Frau Krebs«, sagte sie sachlich. »Die hat eine blaue Schürze. Und sie ist böse.«

»Warum?«

»Sie wollte Vincent verhauen, nur weil er sie mit dem Frisbee getroffen hat. Außerdem hat sie ein Messer.«

»So«, sagte Liebermann. »Und wer ist Vincent?«

»Der wohnt da.«

Nach dieser kryptischen Mitteilung schob Miri die unverwertbaren Reste ihres Kuchens beiseite und verlangte zu spielen.

Gegen sechs zog sich Liebermann erschöpft mit einer Zigarette auf den Balkon zurück. Er hatte sich von Miri jedes einzelne ihrer Spielzeuge vorstellen lassen, seine Haare für Frisierversuche hingegeben und einen babylonischen Legoturm gebaut, ehe er endlich eine Gelegenheit zur Flucht gefunden hatte. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer war er an der von Thekla erwähnten Pinnwand vorbeigekommen. Unter dem Zettel mit der Balletteinladung klemmte ein Zeitungsausschnitt mit der Zeile: Nicht das Auge, sondern der Verstand sieht.

Aha. Offenbar war der Pate des Zitats nie einem Blinden begegnet, was Liebermann allerdings nicht im Mindesten störte. Für den Luxus einer eigenen Pinnwand war er bereit, selbst die idiotischsten Sprüche abzusegnen.

Er wusste, dass man sich in der Vermisstenstelle des Berliner LKA über seinen Tick, kleine Auffälligkeiten auf Zetteln, Aktendeckeln und selbst auf den Möbeln im Büro zu notieren, amüsierte. Aber auch das störte ihn nicht, denn erstens konnte er es nicht ändern, und zweitens taten sie es leise. Was vielleicht daran lag, dass dieser Tick bereits das eine oder andere Mal zu einem ihrer Verschollenen geführt hatte, wenn auch leider meist erst post mortem.

Liebermann warf einen etwas neidischen Blick in die Kronen einiger weiß blühender Bäume, die die Straße unter ihm säumten. Dann setzte er sich vorsichtig in einen von zwei Korbsesseln, legte die Zigaretten in Griffweite auf die Brüstung, drückte sich eine Diclofenac in den Mund und wählte die Nummer seines Büros.

Nach dreimaligem Klingeln erklang am anderen Ende die Stimme von Kommissarin Marion Allhorn. Liebermann sah verdutzt auf sein Display. Er teilte sich das Büro mit Kommissar Uwe Schüler, Marion hatte das nebenan.

Mitten in sein Erstaunen sagte sie: »Ich sortiere hier nur was.«

»Und Uwe?«

»Beim Zahnarzt.«

»So. Dann sag ihm, er soll mich zurückrufen, wenn er wiederkommt.«

»Ich glaub nicht, dass der hier heute noch mal auftaucht«, sagte Marion heiter. »Wenn mich nicht alles täuscht, fault ihm da gerade ordentlich was weg. Er roch aus dem Mund wie meine Schwester damals, als …«

Zu spät riss Liebermann sich das Handy vom Ohr und hielt es über die Balkonbrüstung. Sein Ellbogen stieß gegen die Zigarettenschachtel. Als er zugriff, schnippte sie nach oben, beschrieb einen trägen Salto vor weißgrünem Laub und verschwand in der Tiefe. Liebermann fluchte leise. Dann zählte er langsam bis zehn und näherte das Handy wieder seinem Ohr.

»… hat sie sich noch wochenlang Knochensplitter aus dem Zahnfleisch gezogen«, sagte Marion. Liebermann nutzte die folgende Atempause.

»Ich bin krankgeschrieben.«

Stille.

»Die Bandscheibe?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ja.«

»Also doch! Ich hab doch gerochen, dass das kein normaler Hexenschuss ist.«

Nicht, dass Liebermann sich darüber wunderte. Marion war allgemein bekannt dafür, dass sie roch, Liebermann dafür, dass er ahnte, und Uwe dafür, dass er wusste. Zusammen gaben sie ein ganz passables Kleeblatt ab, auch wenn sie sich zuweilen auf die Nerven fielen. Der zufriedene Ton in Marions Stimme ging Liebermann zum Beispiel ziemlich auf die Nerven, aber er riss sich zusammen.

»Ich komme Montag vorbei, um ein paar Aufgaben zu verteilen. Dann bin ich für zwei Wochen weg.«

»Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.« Das Einfühlungsvermögen seiner Kommissarin rührte Liebermann, bis ihm auffiel, dass sie gerade über seinen Urlaub verfügte. Er rächte sich, indem er ihr auftrug, den Stand sämtlicher Vorgänge bis Montag säuberlich und nach Kindern und Erwachsenen geordnet auf ein Flipchart zu übertragen, dann legte er auf.

Er lechzte nach einer Zigarette. Aber die Schachtel lag irgendwo unten zwischen Löwenzahn und Baumzehen. Fluchend machte Liebermann sich auf den Weg.

Zum Glück war sie nicht hinter die lanzenartigen Spitzen des Vorgartenzauns gefallen, sondern mitten auf den Bürgersteig. Liebermann beugte sich vor und erstarrte.

In den Blitz, der ihm von der Lende bis in die Zehenspitzen schoss, sägte sich die höhnische Stimme der Alten: Wer den Hintern rausstreckt. Er hatte den Hintern rausgestreckt.

Um nicht zu wimmern, holte Liebermann tief Luft und ließ sie langsam zwischen den Zähnen entweichen, während er gebückt zum Zaun hinkte. Er umklammerte eine der Eisenstangen. Atmen. Keine falsche Bewegung. Er atmete. Ein Auto bremste hinter ihm. Liebermann drehte sich nicht um. Stattdessen hangelte er sich Zentimeter für Zentimeter an der Stange aufwärts. Es klang, als parke das Auto ein. Der Motor verstummte, eine Tür schlug zu. Gleich darauf hörte Liebermann das Klappern von Absätzen. Er stöhnte ein letztes Mal und ließ den Zaun los.

»Der Kreislauf?«, fragte eine Stimme.

»Etwas in der Art«, sagte Liebermann, indem er sich langsam herumschraubte.

»Aber es geht …« Er brach ab. In Bruchteilen von Sekunden schrumpfte sein Wortschatz auf ein Minimum zusammen. Himmel! Jesus und Maria! Großer Gott!

Aber es war nicht Gott. Es war ein Engel. Und was für einer! Von ihren Armen ging ein goldener Schimmer aus, ebenso von ihren Locken, der Tasche und irgendwie sogar vom Schwarz ihres Kleides.

»Alles in Ordnung?«

Liebermann hörte Worte, aber er verstand ihren Sinn nicht. Er starrte auf ein goldrotes Lippenpaar, das sich vor ihm auf und ab bewegte. Manchmal starrte er auch in zwei türkisfarbene Augen. Dass es diese Augenfarbe eigentlich nicht gab, kümmerte ihn kaum. Er fragte sich nur, ob auf der Packungsbeilage der Diclofenac Nebenwirkungen erwähnt worden waren.

Irgendwann begriff er, dass sie eine Antwort erwartete. Er hatte nur keine Ahnung, worauf.

»Ja«, sagte er. Der Engel bewegte den Kopf, und an Liebermanns Ohr drang das feine Geklimper goldener Doppelreifen, die zu beiden Seiten des himmlischen Gesichts aus den Locken blitzten.

»Dann bin ich ja beruhigt. Können Sie mir eine Auskunft geben?«

»Ja.«

Sie war vielleicht dreißig, höchstens dreiunddreißig. Und sie trug einen Ehering. Aber das musste nichts heißen. Thekla trug ihren Ring auch immer noch, weil sie ihn nicht abbekam. Die Schöne zog ein Notizbuch aus der Tasche und begann, ihre Finger durch die Seiten zu bewegen. »Ich suche die Ossietzkystraße.«

»Ja«, sagte Liebermann und streckte den freien Arm aus. »Also, geradeaus?«

»Ja.«

Er begriff, dass er so nicht weitermachen konnte.

»Bis zur Ecke. Dort stoßen Sie … äh … quasi auf die Ossietzkystraße.«

»Dann ist mein Navigator kaputt.«

Liebermann lächelte schwach. »Vielleicht ist er nur verwirrt.«

»Bitte?«

»Der Navigator.«

Sie sah ihn eine Sekunde lang zweifelnd an, dann fragte sie: »Wohnen Sie hier?«

»Ich nicht. Meine Tochter.«

»Wirklich?«, fragte sie überrascht. »Sie sehen gar nicht aus, als hätten Sie schon eine erwachsene Tochter.«

»Hab ich auch nicht.« Hatte er das gesagt? Er wusste es nicht genau. Ihr Blick änderte sich erneut. Schließlich zuckte sie die Achseln und klappte das Buch zu.

Die Endgültigkeit dieser Geste erschütterte Liebermann. »Wie lange gedenken Sie, in der Ossietzkystraße zu bleiben?«, fragte er hastig.

»Es ist, weil … es hier ein ziemliches Gerangel um die Parkplätze gibt. Manche Anwohner verstehen es sozusagen als ihr natürliches Recht, vor der eigenen Haustür zu parken, und reagieren … recht ungehalten auf fremde Platzhalter, besonders nach Feierabend.« Er unterbrach sich, als ihm die völlige Absurdität seines Wortschwalls bewusst wurde. Hilflos wies er auf ihr gelbes Cabrio, neben dem die anderen Fahrzeuge aussahen, als gehörten sie auf den Schrott.

Um die Mundwinkel der Schönen hatten sich zwei liebreizende Fältchen gebildet. »Ehe mein Auto tatsächlich zum Auslöser eines Provinzkrieges wird«, sagte sie, »wäre es wohl das Beste, Sie gäben mich für die nächsten anderthalb Stunden als Ihren Gast aus. Oder was meinen Sie?«

Ihr Lächeln fuhr in Liebermann wie in ein Stück weiche Butter und blieb in der Mitte stecken.

Sie hatten die Schrauben fester angezogen. Goran brauchte all seine Kraft, um sie zu lockern. Bei der zweiten ging ihm ein Stechen durch das rechte Handgelenk. Mühsam fummelte er sie heraus und ließ sie, wie die erste und die dazugehörigen Muttern, in eine an seinem Gürtel befestigte Zimmermannstasche fallen. Er blickte sich um. Unter ihm lag der menschenleere Hof. Nur ein Dreirad und ein neuer Stapel Bierkisten neben einer ausrangierten Kühltruhe zeugten davon, dass es hier tagsüber recht betriebsam zuging. Aus einem geöffneten Fenster auf seiner Ebene drang Babygeschrei. Das würde noch eine Weile so weitergehen, dachte Goran, bei Vierlingen hatte immer einer was zu meckern. Ihn störte das nicht, im Gegenteil, es erinnerte ihn an seine Kindheit. Er steckte den Schraubenschlüssel ein und kletterte vorsichtig die kurze Leiter zur nächsten Etage hinunter, schlich über die Holzplanken zur nächsten und immer so weiter, bis er festen Boden unter den Füßen hatte. Die Streben würde er später holen, wenn es ruhig und richtig dunkel geworden war, und dann auch nicht allein.

»Wer ist da?« Die alte Krebs stand, mit ihrer Kittelschürze bekleidet, im Durchgang zur Vordertür. Sie bebte vor Aufregung, in ihrer Hand entdeckte Goran ein Brotmesser. Höflich neigte er den Kopf »Guten Abend!« Die Begrüßungsformeln beherrschte er flüssig, nur mit Unterhaltungen tat er sich zuweilen noch schwer.

Die Krebs reckte kämpferisch das Kinn vor. »Wer sind Sie?«

Goran zerrte am Saum seines Hemdes, bis es die Zimmermannstasche notdürftig verbarg. »Ich bin Goran Flatic, Ihr Nachbar.«

»Mein Nachbar ist tot«, schnaufte die Krebs.

Er begriff nicht gleich. Direkt neben der Alten wohnte ein sehr lebendiges junges Pärchen, das erst vor einem Jahr eingezogen war. Aber dann fiel ihm der Notarztwagen ein, der den Vormieter abgeholt hatte. Herzinfarkt, genau an dem Tag, als sie alle den Sanierungsbescheid im Briefkasten gehabt hatten.

»Ich wohne in der Nummer 19«, sagte er höflich.

»Dann sind Sie nicht mein Nachbar.«

Es war, als ob diese Feststellung die alte Krebs ein wenig entspannte. Sie steckte ihr Küchenmesser mit der Klinge nach oben in eine Tasche ihrer Schürze und nahm die Brille ab, um sie am Zipfel ihres Universalkleidungsstückes zu putzen. »Sie haben sich verlaufen«, sagte sie. »Sie müssen hier durch die Tür raus und dann genau einen Aufgang weitergehen. Das ist Ihrer. Und beeilen Sie sich, es regnet gleich.«

»Gut, danke. Danke.«

Die Alte geriet in Absolutionslaune. »Ist ja auch nicht leicht, sich hier zurechtzufinden. Für einen, der aus der Pampa kommt. Ich habe Sie übrigens schon mal gesehen.«

»Ja«, murmelte Goran. »Ich wohne hier.«

Sie stemmte die Fäuste in die dürren Hüften und starrte ihn an. »Tatsächlich?«

Miri durfte ihr Abendbrot ausnahmsweise vor dem Fernseher essen, während Liebermann auf dem Balkon saß und den Bürgersteig observierte. Nach einer halben Stunde, während derer eine Menge buntes Volk unter ihm herumgestromert war, begann er daran zu zweifeln, ob es den Engel wirklich gab oder ob er doch nur einer Drogenhalluzination aufgesessen war. Aber nein. Direkt vor der Tür, schnurgerade eingeparkt, stand der Beweis. Liebermann überlegte, ob er es wagen sollte, sich kurz auf den Teppich im Wohnzimmer zu legen.

Dank der Tabletten war der Schmerz dumpfer geworden, aber er war da. Er lauerte in einem unbedeutenden Knorpel, der aus der Reihe getanzt war, auf die Reaktivierung von Liebermanns Reizleitungen. Und sosehr er im Allgemeinen für funktionierende Reizleitungen plädierte, heute tat er es nicht. In spätestens einer Stunde würde SIE zurückkehren. Und SIE sollte ihn nicht wieder im Vierfüßlergang antreffen. Liebermann stellte sich in Positur, atmete ein Ziehen weg und hob eine Braue. »Na, schon zurück?«

Nein, das war plump. Mit etwas Pech sagte sie »Ja« und fuhr los. Was würde einer Frau von ihrem Format imponieren? Diskreter Charme, intelligenter Witz – auf Witz sprangen alle Frauen an. Obwohl Liebermann in Bezug auf Humor und Frauen wenig Erfahrungen hatte. Er ging einfach davon aus, dass die meisten Frauen lieber lachten als weinten. Weil ihm nichts einfiel, was witzig und intelligent zugleich war, beschloss er, an seinem Lächeln zu arbeiten. Während einer weinseligen Betriebsfeier hatte Marion seine Augen einmal »blauen Nebel« genannt. Es hatte wie ein Kompliment geklungen. Nun gut, dann würde er die Schöne eben umnebeln. Liebermann nahm das Balkontischchen ins Visier, strahlte es an und sagte: »Ihr Auto hat kein Dach.«

»Welches Auto?«, fragte Miri, die unbemerkt neben ihm aufgetaucht war.

»Ach nichts, ich denke mir nur gerade eine Geschichte aus.«

»Für mich?«

»Natürlich.«

»Dann geh ich jetzt ins Bett.«

»Wie, schon?«

»Nach dem Sandmann gehe ich immer ins Bett.« Seufzend spähte Liebermann über den Rand der Balkonbrüstung. Miri kam zu ihm und tat es ihm nach. »Ist da was?«

»Na ja …«, murmelte er. »Vorhin war da unten eine komische Katze.«

Vor einiger Zeit war da wirklich eine Katze gewesen, ein beunruhigendes Tier, das sich ohne jede Scham mitten auf dem Bürgersteig gewälzt hatte. Miri lehnte sich noch weiter vor. Ihre Zehen in den rosa Socken berührten kaum noch den Boden.

»Sie ist weg«, sagte Liebermann.

»Wie sah sie aus?«

»Rötlich, glaube ich.«

»Dann war’s Aurelia, aus dem Haus von Vincent.«

»Ach ja, Vincent. Zieh dich schon mal aus, ich komm gleich.«

Sie wollte eine Geschichte, in der ein Krokodil, eine Katze und zwei Menschen vorkamen, die am Ende heirateten. Zehn Minuten, dachte Liebermann. Wenn er die Schöne in diesen zehn Minuten verpasste, dann war es eine Backpfeife Gottes. Die er ihm heimzahlen würde, so viel war gewiss.

»Wozu ein Krokodil?«

»Damit es ein bisschen spannender ist.«

»Und die Katze?«

»Weil du Aurelia gesehen hast. Und weil ich eine haben will.«

»Aber wozu? Katzen haaren, kratzen die Tapete von den Wänden und machen sich überall dort breit, wo du sie nicht gebrauchen kannst. Und manche stinken. Wünsch dir lieber einen Vogel, dem kannst du sogar das Sprechen beibringen.«

»Ich will nicht mit einem Vogel sprechen. Ich will eine wie Aurelia.«

Liebermann gab sich geschlagen. Er legte sich vor das Bett seiner Tochter, schob sich einen Teddy unter den Hintern und begann die traurige Geschichte eines kleinen Zookrokodils, das kurz vor dem Verhungern stand, weil sein Gehege täglich von einer Bande räuberischer Straßenkatzen heimgesucht wurde. Erst ein beherzter Tierpfleger und eine schöne Zoopraktikantin mit goldenen Locken setzten dem Spuk schließlich ein Ende und brachten die Bande hinter Schloss und Riegel. Seitdem gab es im Zoo einen Käfig mit der Aufschrift »Raubkatzen«. Und weil Praktikantin und Pfleger sich gegenseitig außerordentlich nett fanden, heirateten sie. In einem Auto ohne Dach.

»So eine blöde Geschichte«, sagte Miri, als er fertig war.

»Aber es kam eine Hochzeit darin vor«, erwiderte Liebermann und löschte das Licht. Dann ging er auf den Balkon.

Serrano saß in einem Hauseingang zwischen der Fleischerei und dem benachbarten Zeitungsladen und dämmerte vor sich hin. Die bleierne Müdigkeit, die ihn den Vormittag über gefangen gehalten hatte, löste sich langsam auf, auch der Schmerz war stiller geworden, aber was nützte ihm das?

Er bemühte sich, nicht an Aurelia zu denken. Darum dachte er umso mehr an sie. Und wenn es ihm tatsächlich gelang, sich für ein paar Minuten von ihr abzulenken, dachte er an Cäsar.

Cäsar war von den Söhnen, die Serrano in den letzten Jahren gezeugt hatte und die im Viertel geblieben waren, mit Abstand der stattlichste. Seine Mutter war eine Halbkartäuserin gewesen, deren gesamte Kraft in den einzigen Wurf ihres Lebens geflossen war. Im letzten Sommer hatte ein Linienbus sie mitgerissen. Es gab einige, die behaupteten, dass sie es drauf angelegt hatte. Andere, dass sie es ein wenig zu eilig hatte, zu einem bestimmten Kater zu kommen. Serrano enthielt sich jeder Spekulation, wie er sich auch nach der Zeugung jedes Kontaktes zu Cäsars Mutter enthalten hatte. Nun war sie tot, aber Cäsar lebte.

Er war jetzt ein anderthalbjähriger, attraktiver Jungkater, etwas kleiner als er selbst, dafür muskulöser. Und ein Rebell. Soweit Serrano wusste, hatte Cäsar noch keinen Wurf hervorgebracht. Aber lange konnte es nicht mehr dauern, und Serrano bangte vor diesem Tag. Er kannte die enorme Wirkung des ersten Wurfs auf das Selbstbewusstsein eines Katers. Und an Selbstbewusstsein mangelte es Cäsar schon jetzt nicht. Vor einigen Tagen hatte Serrano ihn mit einem Pansen im Maul an der Abfalltonne der Fleischerei erwischt. Er erinnerte sich gut an Cäsars Blick. Die Herausforderung darin, das verschlagene Grinsen, als Serrano ihn auf die Mauer zum Nachbargrundstück gejagt hatte.

Cäsar wurde von der Frau des Pfarrers, zu dessen Haushalt er gehörte, gut versorgt, er brauchte den Pansen nicht. Dass er ihn vor den Augen seines Vaters aus der Tonne gestohlen hatte, war ein Zeichen, das deutlicher kaum sein konnte.

Aber Serrano war selbst erst fünf Jahre alt und nicht gewillt, auch nur einen Meter seines Hoheitsgebietes abzutreten. Er würde Cäsars Souveränität auf dem Pfarrhof und dem benachbarten Gut des Gemeindeamtes respektieren. Solange sein Sohn respektierte, wer der Princeps des Viertels war. Zumindest bis heute Morgen gewesen war. Verzweifelt flüchtete Serrano sich in einen kurzen, anstrengenden Schlaf. Als er aufwachte, beschloss er, Bismarck ins Vertrauen zu ziehen.

Bevor er ging, putzte er sich oberflächlich. Bismarck mochte es nicht, wenn man ihm mit schmutzigem Fell gegenübertrat. Dann glitt Serrano aus der Tür.

Der schreckliche Tag neigte sich langsam dem Ende entgegen. Nur vor dem Delikatessenladen auf der anderen Straßenseite war noch Betrieb. Rechts von Serrano fegte die Fleischersfrau summend den Weg vor ihrem Laden. Zum Glück stand sie mit dem Rücken zu ihm. Serrano wandte sich in die Gegenrichtung und rannte in eine Schuhspitze.

»Kroppzeug«, sagte die Trägerin des Schuhs, als sie sich wieder gefangen hatte.

»Das ist schon die dritte, die mir hier vor die Füße läuft.«

»Ja, aber der da gehört hierher«, erklärte die Inhaberin des Zeitungsladens, die ihre Kundin an die Tür begleitet hatte, um hinter ihr abzuschließen.

»Sagt wer?« Die Kundin riss ihre gerade erstandene Schachtel Gudang Garam auf.

»Na, der Fleischer zum Beispiel«, sagte die Zeitungsfrau schüchtern.

Sie sah zu, wie ein Feuerzeug aus einem goldenen Ungetüm von einer Tasche in die Hand der Kundin wanderte. So etwas hatte sie hier noch nie gesehen. Aber die Kundin war schließlich nicht von hier, sie war eine Frau von Welt, das hatte sie gleich gemerkt. Vielleicht eine vom Laufsteg oder eine Maklerin, die den Wert der wenigen noch nicht sanierten Häuser schätzen wollte. In solchen Kreisen trug man jetzt wahrscheinlich goldene Säcke.

Trotzdem verspürte die Verkäuferin das Bedürfnis, das Viertel, in dem sie seit über zwanzig Jahren einen Zeitungsladen führte, zu verteidigen. »Der Kater da ist ein guter Rattenjäger.«

Die Kundin warf ihr einen türkisfarbenen Blick zu und kräuselte die Lippen. »Ach, Ratten gibt es hier auch?«

Eine der angenehmen Eigenschaften Bismarcks war seine Prinzipientreue.

Wen er einmal in sein Herz geschlossen hatte, den gab er nicht mehr preis.

Er ernährte sich ausschließlich von einer bestimmten Sorte Hering, die ihm seinen Namen eingetragen hatte, und besaß einen Stammplatz, den er pünktlich mit der Hyazinthenblüte einnahm und bis zum ersten Frost nicht verließ.

Nur zweimal am Tag drehte Bismarck eine Runde um den Block. Serrano kannte ihn, seit seine Mutter ihn entwöhnt hatte. Auch da war Bismarck schon ein Greis gewesen. Schätzungen seines Alters schwankten zwischen achtzehn und zwanzig Jahren. Er hatte Seite an Seite mit Serranos Urgroßvater im Krieg gekämpft, und er erzählte gern, wie jener ihm das Leben gerettet hatte. Manchmal war es auch umgekehrt, aber egal, wer wen gerettet hatte, wichtig war, dass Bismarck sich den Abkömmlingen seines alten Freundes verbunden fühlte. Besonders Serrano, dem einzigen Kater, dem er darüber hinaus sogar Respekt zollte.

Serrano begrüßte ihn mit ehrerbietigem Schweigen. Bismarck nahm auf dieselbe Weise an. Nach einer Weile rutschte er auf dem abgenutzten Stück Bastmatte, das eine freundliche Seele unter seinen Fliederbusch gelegt hatte, unauffällig ein wenig beiseite.

Sie sahen durch eine lichte Stelle im Blattwerk auf die Straße und das Haus auf der anderen Seite. Es war eins der milchigen. Die meisten Häuser hatten in den letzten Jahren die Farbe gewechselt. Vorher waren sie braun, rötlich oder grau gewesen, jetzt waren fast alle milchig, fleischfarben oder gelb, wie das Fahrzeug, das dort vor dem Eingang stand.

Nach einer Zeit, die ihm angemessen schien, fragte Serrano: »Kennst du das Vierrad da?« Nicht, dass es ihn besonders interessierte, aber bei Bismarck durfte man nicht mit der Tür ins Haus fallen. Er war ein Kater der alten Schule.

Gleich zum Problem zu kommen hielt er für plump, und Plumpheit begegnete er mit langen Vorträgen über den fortschreitenden Verfall der Kultur. Dafür hatte Serrano jetzt keine Zeit.

»Vorher nie gesehen«, sagte Bismarck. »Steht noch nicht lange dort.«

»Es ist also ein Besucher?«

»Besucherin«, sagte Bismarck grinsend und kratzte sich das fast haarlose Kinn. »Ziemlich komisches Weibchen. Genauso komisch wie ihr Vierrad. Guck dir mal die Räder an. Und es hat kein Dach!«

»Man kann eine Haut drüberspannen«, sagte Serrano. »Was du nicht sagst!«

Offenbar war dem Fürsten auf seinen Blockrunden noch keines der seltsamen Gefährte begegnet. Er war wirklich nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Aber es stand zu vermuten, dass dem Alten die Höhe der Zeit auch ziemlich egal war. Bismarck hatte genug damit zu tun, die Schnipsel seiner Erinnerungen zu sortieren und sein Haus zu hüten. Er hörte auf, sein Kinn zu kratzen.

»Da drüben, den dritten Balkon von unten, siehst du den?«

Serrano blickte an der gegenüberliegenden Hauswand hinauf. Hinter ein paar Blumentöpfen erkannte er den oberen Teil eines Menschen, der ihm bekannt vorkam, ohne dass er sich an nähere Umstände erinnern konnte. »Was ist mit dem?«

»Als das Vierrad ankam, hat dessen Besitzerin mit ihm geredet. Ein Kopffell, rot wie Kirchenziegel, und ein Gang wie ein Storch. Seitdem steht er da oben.«

»Vielleicht soll er auf das Vierrad aufpassen.«

»Möglich. Aber irgendwas stimmt nicht. Er gehört nicht auf den Balkon. Da gehört eine Frau mit ihrem Kleinen hin. Die Frau ist vorhin geflüchtet. Mich interessiert, wo das Kleine ist.«

Serrano kniff nachdenklich die Augen zusammen. Er dachte an einen Stock. Warum einen Stock? Und plötzlich fiel es ihm ein: »Er umarmt Laternen«, sagte er. »Ich hab’s gesehen.«

»Und er hängt an Zäunen«, fügte Bismarck hinzu. »Komischer Typ, was? Ich sag dir, dem fehlen ein paar Schnurrhaare. Er beobachtet zum Beispiel die Straße.«

»So wie du?«

Bismarck geruhte, die Bemerkung zu ignorieren. »Ich hab viele kommen und gehen sehen. Ich weiß, wenn einer Unruhe ins Revier bringt.«

»Unruhe, ich weiß nicht. Seit wir miteinander reden, hat er sich kein einziges Mal bewegt.«

Bismarcks Schwanzspitze schlug ärgerlich nach einer Mücke.

»Wer sagt, dass man sich dazu bewegen muss? Haben sich die vergifteten Ratten damals bewegt, bevor sie die Luzifersippe in den Tod getrieben haben?«

Dazu sagte Serrano nichts. Zur Zeit der Tragödie um die Luzifersippe war er noch nicht geboren, und Bismarck wusste das.

»Was willst du eigentlich?«, fragte der Alte, zufrieden, dem jüngeren das Maul gestopft zu haben. »Du wirst mich kaum besuchen, um mit mir über Vierräder zu plänkeln.«

»Nein.«

»Also?«

Jetzt, wo es so weit war, kamen Serrano Zweifel an seiner Idee, ausgerechnet Bismarck um Rat zu fragen. Andererseits rechnete er ohnehin mit dem Schlimmsten, also war es auch egal.

»Heute früh hat der Fleischer mich zu einem menschlichen Weibchen gefahren. Ich kann mich nicht daran erinnern, was sie mit mir gemacht hat, aber ich fürchte … als ich vorhin aufwachte, war ich verletzt, ich weiß nicht …«

Bismarck beobachtete den dunklen Schopf auf dem Balkon im dritten Stock. Es war unmöglich zu sagen, ob er überhaupt zuhörte. »Hat sie dich gestochen?«, fragte er endlich.

»Möglich, kann sein. Vielleicht. Ich erinnere mich an grelles Licht und sanftes Gemurmel, dann reißt der Faden ab.«

»Und zu dir gekommen …«

»… bin ich im Schlafzimmer des Fleischers auf einer stinkenden Decke.«

»Hm«, machte Bismarck. Und dann noch einmal: »Hm.«

»Vorhin war Aurelia bei mir«, sagte Serrano. »Sie ist läufig.«

»Oh, hm!«

»Wir haben gestritten.«

»Kann ich mir denken.«

»Da ist noch was.« Serrano zögerte. »Ich … bin der Herr des Viertels. Aber … ich meine, ein Kater, der … nicht mehr, ich muss mein Amt wohl abgeben – was meinst du?«

Bismarck schloss die Augen. Serrano wartete. Es passierte nichts. Wie es aussah, war der Alte eingeschlafen.

Niedergeschlagen stand Serrano auf.

»Die Gabe, ein Viertel zu lenken, schlummert nicht zwischen den Beinen«, sagte Bismarck plötzlich, ohne die Augen zu öffnen. »Wenn es so wäre, müsste die Herrschaft an einen Idioten übergehen. Denn die Guten hier, ich dachte, das wüsstest du, sind fast alle ihrer Manneskraft beraubt. Bis auf Ben, und dem liegt nichts an weltlichen Dingen.«

»Du meinst …«

»Es ist schändlich, gewiss. Falls es noch einmal einen Krieg geben sollte, dann nicht gegen Katzen, sondern gegen die Menschen. Obwohl ich mir auch da nicht sicher bin. Wer sich von Menschen füttern lässt und in ihren Häusern schläft, braucht sich nicht zu wundern, wenn er von ihnen wie Eigentum behandelt wird.«

»Ich habe nicht im Haus des Fleischers geschlafen, sondern im Hof.«

»In einem Schuppen, der auf seinem Hof steht. Und du hast sein Futter genommen.«

Serrano starrte den Alten an. Aber letztlich musste er zugeben, dass Bismarck recht hatte. Er setzte sich wieder. »Wo wir schon dabei sind: Wäre es möglich, dass ich eine Weile bei dir wohne? Es muss ja nicht dein Keller sein, einer der anderen genügt.«

Bismarcks Schnurrbarthaare begannen zu beben. Sympathie hin oder her, kein Kater mochte es, wenn sich ein anderer in seinem Revier breitmachte.

»Es ist nur, bis ich etwas anderes …«

»Meinem Keller gegenüber«, sagte Bismarck, die Augen noch immer auf sein Innenleben gerichtet, »liegt einer, dessen Tür nur angelehnt ist. Nicht besonders gemütlich, aber trocken.«

»Danke. Es ist nur für kurz.«

»Das hoffe ich«, sagte Bismarck. »Und was Aurelia angeht: Rede mit ihr!«

Serrano seufzte. »Ich hab’s versucht.«

»Nicht, solange sie läufig ist. Das bringt nichts. Du musst dich damit abfinden, dass sie ihren ersten Wurf von einem anderen haben wird. Aber wenn sie erst schwanger ist und wieder alle Fünfe beisammen hat, kannst du immer noch ihr Freund sein. Wenn du am Knäuel bleibst. Sie mag dich.«

»Meinst du?«

»Das sieht doch ein Blinder. Ich kenne kein anderes Paar, das auch außerhalb der fruchtbaren Zeit wie Pech aneinanderklebt. Ich weiß ja nicht, was du an ihr findest, aber sie jedenfalls bewundert dich.«

Ein früher Maikäfer torkelte gegen eine Mülltonne vor Bismarcks Haus. Serrano war versucht, nach ihm zu haschen. Vor wenigen Minuten noch hätte er sich einer solchen Aktionslust nicht für fähig gehalten.

»Danke«, sagte er zu Bismarck. »Ich gehe nachher zu ihr.« Er dachte an den alten Knochen, aber ausnahmsweise schreckte ihn der Gedanke nicht. »Es würde mich wundern, wenn sie noch nicht empfangen hat.«

»Freu dich nicht zu früh«, sagte Bismarck und öffnete ein Auge. »Hier gibt’s kaum noch Kater, die nicht kastriert sind.«

Serrano zögerte. Dann sagte er: »Es gibt Cäsar.«

»Na ja«, sagte Bismarck schläfrig. »Stimmt. Dann bleibt es wenigstens in der Familie.«