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Lars-Broder Keil
Sven Felix Kellerhoff

Fake News machen Geschichte

Gerüchte und
Falschmeldungen im
20. und 21. Jahrhundert

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

entspricht der 1. Druckauflage von September 2017

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Umschlaggestaltung: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag,

unter Verwendung eines Motivs von shutterstock (Nr. 572065486)

eISBN 978-3-86284-398-5

Inhalt

Zu diesem Buch

»Potsdam marschiert«

Kurt von Schleichers vermeintlicher Staatsstreich 1933

»Rückzugsgebiet Alpenfestung«

Die Sorge vor Hitlers letztem Trumpf 1945

»Für die Amerikaner spioniert«

Die Noel-Field-Affäre 1949 bis 1954

»Amikäfer«

Die Kartoffelkäferplage in der DDR 1950

»KZ-Baumeister«

Die Kampagne gegen Bundespräsident Heinrich Lübke 1964 bis 1969

»Isolationsfolter und Vernichtungshaft«

Baader-Meinhof im Gefängnis 1972 bis 1977

»Ökologisches Hiroshima«

Das Waldsterben in Deutschland 1979 bis 1988

»DDR öffnet Grenzen«

Der Fall der Mauer 1989

»Serbischer Genozid«

Der Hufeisenplan und der Kosovo-Krieg 1999

»Die Spareinlagen sind sicher«

Wie die Weltfinanzkrise 2008 Deutschland erreichte

»Flüchtlinge sind willkommen«

Gründe für die massenhafte Zuwanderung 2015

Ausblick

Anhang

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

Danksagung

Die Autoren

Zu diesem Buch

»Jedermann sagt es, niemand weiß es.«

Deutsches Sprichwort

»Dass Gerüchte aller Art jederzeit schädlich sind, ist ebenso klar wie,
dass sie zu einer akuten Gefahr werden können, wenn sie in einem
Zeitpunkt schärfster Spannung auftauchen sollten.«

Generaladjutantur der Schweiz, 19411

Washington D. C., Freitag, der 20. Januar 2017: Donald Trump wird als 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Vor dem Kapitol legt er den Amtsschwur ab und richtet sich anschließend mit einer Rede an das amerikanische Volk – so wie es seine Vorgänger auch getan haben. Allerdings tritt Trump überhaupt nicht präsidial auf, sondern bleibt im Angriffsmodus seines Wahlkampfes. Unverhohlen sagt er den Hauptstadt-Politikern den Kampf an: »Zu lange hat eine kleine Gruppe die Vorteile der Regierung genossen, während das Volk die Kosten zu tragen hatte. Washington florierte, aber das Volk hatte keinen Anteil an diesem Reichtum. Politikern ging es immer besser, aber die Arbeitsplätze verschwanden und die Fabriken schlossen«, wettert Trump. Den versammelten Zuhörern verspricht er: »All das ändert sich von genau diesem Moment an und genau von diesem Ort aus, denn dieser Moment ist Ihr Moment.«2

Denkwürdig ist auch, wie Trump auf die Berichte über seine eigene Amtseinführung reagiert. Wenige Stunden später nämlich besucht der neue Präsident den US-Geheimdienst CIA und äußert sich dort. Allerdings nicht ergriffen oder stolz, sondern erkennbar beleidigt. Trump bezieht sich auf Meldungen, denen zufolge der Zeremonie im Vergleich zur ersten Vereidigung seines Vorgängers Barack Obama weitaus weniger Menschen zugesehen hätten. Das sei eine »Lüge«, sagt Trump. Man habe absichtlich falsche Bilder verbreitet, um ihn in ein schlechtes Licht zu rücken. Etwas einschränkend schiebt er nach: »Ehrlich gesagt, es sah aus wie 1,5 Millionen Leute.«3

Luftaufnahmen von der National Mall vor dem Kapitol zeigen jedoch, dass weite Flächen des langgestreckten Platzes leer geblieben sind. Bei Obama, dessen Amtseinführung 2009 nach offiziellen Angaben mehr als 1,8 Millionen Menschen live vor Ort sehen wollten, war der eigens mit Platten geschützte Rasen fast vollständig gefüllt. Den Unterschied verdeutlicht eine Gegenüberstellung von Aufnahmen, die jeweils ungefähr 45 Minuten vor der Zeremonie aufgenommen worden waren. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass bis zum Beginn von Trumps Amtseid und Rede noch Menschen zum Platz gekommen sind, verspätet oder aufgehalten von Demonstrationen gegen den neuen Präsidenten: Der Kontrast zwischen beiden Veranstaltungen ist frappierend.4

Doch Trump will das nicht wahrhaben und grollt. Noch verstockter ist sein Sprecher Sean Spicer: »Dies war das größte Publikum, das je bei einer Vereidigung dabei war. Punkt«, behauptet er bei seiner Premiere vor dem Pressekorps des Weißen Hauses. Dann unterstellt er, ebenso wie Trump selbst, den Medien Fälschungsabsichten. Verweise auf den Vergleich der beiden Fotosequenzen kontert Spicer: »Es ist unsere Absicht, Sie niemals anzulügen.« Dann fügt er hinzu: »Manchmal werden wir uns über die Fakten streiten.« Griffiger formuliert denselben Gedanken Trumps Beraterin Kellyanne Conway in der NBC-Fernsehsendung »Meet the Press«. Als Moderator Chuck Todd sie fragt, warum Trump gleich am ersten vollen Arbeitstag seinen Sprecher geschickt habe, um »widerlegbar falsche« Anschuldigungen zu machen, antwortet die Wahlkampfstrategin: »Sie sagen, dass es eine falsche Behauptung ist, und Sean Spicer, unser Pressesprecher, hat alternative Fakten dazu vorgelegt.« Todd reagiert schlagfertig: »Alternative Fakten sind keine Fakten. Es sind Unwahrheiten.«5

London, Freitag, der 24. Juni 2016: Nur wenige Stunden nach der Entscheidung der Briten, aus der EU auszutreten, wird Nigel Farage in der ITV-Sendung »Good Morning Britain« zu den Folgen des Brexit befragt. Zur Überraschung der Zuschauer sagt der erklärte EU-Gegner und Vorsitzende der United Kingdom Independence Party (Ukip), er könne nicht garantieren, dass – wie von den Brexit-Befürwortern wiederholt angekündigt – 350 Millionen Pfund pro Woche statt an Brüssel nun ins nationale Gesundheitssystem National Health Service (NHS) fließen werden. »Das war einer der Fehler, die die ›Leave‹-Kampagne gemacht hat.«6 Damit räumt Farage mal eben eines der zentralen Versprechen der Europa-Gegner an die Wähler ab. Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson von den Konservativen, einer der prominenten Ausstiegsbefürworter, hatte die Zahl in großen Lettern auf seinen knallroten Wahlkampfbus spritzen lassen und das Versprechen hinzugesetzt: »Lasst uns stattdessen unser Gesundheitssystem finanzieren.«7

Berlin, Dienstag, der 17. Januar 2016: Die Berliner Zeitung veröffentlicht den Artikel »Polizei widerspricht Gerücht über eine Vergewaltigung«. Geschildert wird der Fall einer 13-Jährigen aus Berlin-Marzahn, die bei der Polizei ausgesagt habe, am 11. Januar auf dem Schulweg von arabischen Männern entführt, in einer Wohnung 30 Stunden lang gegen ihren Willen festgehalten und wiederholt vergewaltigt worden zu sein. Eine Verwandte des Mädchens behauptet, dass der Fall »totgeschwiegen wird«. Diese Darstellung beginnt umgehend in sozialen Netzen zu kursieren und wird von rechten Gruppen verbreitet. »Nach bisherigen Ermittlungen der Polizei gab es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung«, hält eine Polizeisprecherin dagegen. Es träfe zu, dass eine 13-Jährige als vermisst gemeldet worden sei, sie sei jedoch nach Hause zurückgekehrt. Um die Persönlichkeitsrechte des Kindes zu schützen, könnten keine näheren Angaben gemacht werden.8

Die übliche Formulierung nährt in den Augen vieler den Verdacht, hier werde etwas vertuscht. Spekulationen lassen den Fall Kreise ziehen. Einen Tag nach dem Dementi der Polizei berichtet ein russischer Fernsehsender von der angeblichen Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens in Berlin. Auf Facebook wird der Bericht millionenfach gesehen und geteilt. Andere Medien greifen das Thema auf und konzentrieren sich immer mehr auf den Migrationshintergrund der mutmaßlichen Täter, angeblich der Grund für das »Vertuschen des Falls«. Bei ihnen soll es sich um Flüchtlinge handeln. Von einer »ferngesteuerten deutschen Lügenpresse« ist die Rede, weil diese der offiziellen Darstellung folge. Trotz Dementi beruhigt sich die Lage nicht. Am 23. Januar demonstrieren Russlanddeutsche vor dem Kanzleramt in Berlin. Plakate werden hochgehalten, auf denen eindeutige Forderungen zu lesen sind: »Wir sind gegen Gewalt« etwa oder: »Hände weg. Von mir und meinem Kind« und »Unsere Kinder sind in Gefahr«; mitunter auch in gebrochenem Deutsch: »Kinder weinen selbe Sprache!« Schließlich meldet sich sogar Russlands Außenminister Sergej Lawrow zu Wort und macht den Fall zum Politikum. Er wirft den deutschen Behörden vor, »die Realität zu übermalen«. Wörtlich sagt er: »Hier müssen die Freiheit und die Gerechtigkeit herrschen. Ich hoffe sehr, dass die Migrationsprobleme nicht zum Versuch führen, die Realität wegen ›political correctness‹ und innenpolitischer Zwecke zu beschönigen.«9

Drei Beispiele für politische Falschmeldungen aus jüngster Zeit, die nicht nur die Gemüter erregt und für Schlagzeilen gesorgt, sondern auch viel Aufmerksamkeit auf das Phänomen Gerüchte gelenkt haben. Zum einen, weil es faszinierend ist zu beobachten, wie bewusst oder unbewusst in die Welt gesetzte Falschmeldungen ebenso bewusst oder unbewusst verbreitet werden. Mitunter genauso faszinierend, in vielen Fällen aber auch verwunderlich, befremdlich, ja mitunter sogar bedrückend ist es, dass viele Menschen solchen Gerüchten Glauben schenken. Gerade, wenn es darum geht, Äußerungen oder Verhalten von Institutionen und Gruppen infrage zu stellen, die über Jahrzehnte als vertrauenswürdig galten, zumindest in Demokratien. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest Dimap von Januar 2017 hielten 42 Prozent der Befragten die Medien in der Bundesrepublik für nicht glaubwürdig, weitere 37 Prozent gaben an, dass ihr Vertrauen gesunken sei. Ebenfalls 42 Prozent der Deutschen glaubten, dass Staat und Regierung den Medien vorgäben, worüber sie berichten sollen.10

Der Verlust des Vertrauens, der einhergeht mit geringer Wahlbeteiligung und Parolen wie »Lügenpresse« oder »System-Medien«, offenbart noch mehr. Der Prozess zeigt, wie sehr ein Verhalten wie das von Trump, Farage und Co., aber auch das Agieren vieler Medien in der Flüchtlingskrise, um ein weiteres aktuelles Beispiel zu nennen, das Ansehen von Politikern und Journalisten nachhaltig schädigt – ob die Skepsis und Kritik im Einzelfall nun berechtigt sind oder nicht. Zum Glück wächst mit dem Gefühl, dass die Fälle von Falschmeldungen und Gerüchten, neuerdings »Fake News« genannt, zunehmen, auch das Interesse daran zu verstehen, was hinter ihnen steckt. Wie sie ihre Wirkung entfalten können. Wie man sie erkennt – und vor allem, wie man sich gegen sie wappnen, ja: wehren kann.

Trumps Ärger über die Berichte seiner Amtseinführung hat selbstverständlich mit seinem Habitus zu tun. Als Außenseiter gestartet, zunächst belächelt, dann attackiert, hat er – was viele bis zum Schluss nicht für möglich hielten – die US-Präsidentschaftswahl gewonnen. Total von sich überzeugt, vielleicht auch genervt ob der großen Zweifel an seinem Charakter und seinem Stil, hat er unmittelbar vor dem 20. Januar 2017 angekündigt, seine Amtseinführung an diesem Tag werde »größer als erwartet«. Man kann seine Enttäuschung nachvollziehen, als genau das dann ausbleibt. Also greift er zu einer Methode, die ihn schon im Wahlkampf begleitet hat: bei öffentlichen Auftritten beliebige Behauptungen aufzustellen, die sie sich schon bei oberflächlicher Prüfung als unwahr herausstellen. Auf den für ihn meist unangenehmen Fakten-Check reagiert Trump häufig nach einer weiteren Methode: Er geißelt die Entlarvung seiner Lügen als Beispiel für die »Unfairness«, der er ausgesetzt sei. Den Medien, die seine Äußerungen hinterfragen und Hintergründe recherchieren, wirft Trump seinerseits vor, »Fake News« zu verbreiten. Typisch ist das erste TV-Duell mit seiner Gegenkandidatin Hillary Clinton von den Demokraten. Bereits vorher kursieren ironische Empfehlungen. Das Portal »Raw Story« warnt zum Beispiel: »Vielleicht haben Sie vor, immer dann einen zu heben, wenn Trump lügt.« Das sei nicht nur gefährlich, sondern angesichts der zu erwartenden Menge an Unwahrheiten potenziell tödlich. Ähnlich ist es auch beim Duell selbst: Clinton weist Trump reihenweise anhand früherer Äußerungen nach, dass er »Fake News« verbreitet hat. Seine monotone Antwort: »Das habe ich nicht gesagt.«11

Als Falschbehauptung ist auch die angebliche wöchentliche 350 Millionen Pfund-Zahlung Großbritanniens an Brüssel entlarvt worden – schon während der Kampagne für den EU-Ausstieg. Medien und Wirtschaftsexperten haben unter anderem auf den Sonderstatus hingewiesen, den die einstige Premierministerin Margaret Thatcher 1984 ausgehandelt hatte, wonach die wöchentliche Zahlung der Briten an die EU auf 250 Millionen Pfund begrenzt wird. Zieht man die Milliarden ab, die jährlich von Brüssel ins Land zurückfließen, zahlt Großbritannien verschiedenen Berechnungen zufolge tatsächlich zwischen 110 und 190 Millionen Pfund pro Woche an die EU. Nicht wenig, aber gerade einmal ein Drittel bis die Hälfte der behaupteten Summe. Gleichwohl hat sich die Zahl von 350 Millionen Pfund im Gedächtnis der Wähler festgesetzt, nach einer Umfrage von Ipsos Mori haben 78 Prozent der Briten angegeben, schon mal davon gehört zu haben. 47 Prozent, also fast die Hälfte, hält die Zahl für richtig. Offensichtlich sind den EU-Gegnern alle Mittel recht gewesen, um die europaskeptische Stimmung in Großbritannien anzuheizen.12 Während Nigel Farage das immerhin zugibt, freilich erst, als sein Ziel erreicht war, behauptet der konservative Euro-Skeptiker Duncan Smith nach dem Referendum, man habe nie versprochen, so viel Geld ins Gesundheitswesen stecken zu wollen. Als er anhand von Fotos an die Aufschriften auf Wahlkampf-Bussen erinnert wird, redet sich Smith heraus: Er fühle sich an dieses Wahlversprechen nicht wörtlich gebunden. Die Aufschrift habe bloß eine Möglichkeit unter vielen illustrieren sollen.13

Wie sehr Falschaussagen von Interessen geleitet werden, zeigt exemplarisch der Fall des deutsch-russischen Mädchens aus Berlin-Marzahn. Die Empörung von Außenminister Lawrow hat weniger mit Sorge um das Wohl der 13-Jährigen zu tun, sondern ist eine Retourkutsche für die wiederholte Kritik aus dem Westen oder von Menschenrechtsorganisationen an Russlands Politik, die sich zum Beispiel an unfairen Prozessen und politisch motivierten Urteilen gegen Oppositionelle oder kritische Journalisten festmacht. Als sein damaliger Kollege Frank-Walter Steinmeier zu verstehen gibt, Moskau würde sich beim Fall Lisa in innere Angelegenheiten Deutschlands einmischen, was nicht stimmt, denn Lisa hat beide Staatsbürgerschaften, kontert Außenminister Lawrow: »Kommentare zur Lage der Menschenrechte hat bislang noch niemand als Einmischung gewertet.« Auch seien aus der Bundesrepublik viel häufiger Kommentare zur Innenpolitik Russlands zu hören als umgekehrt.14

Das Verhalten vieler Russlanddeutscher, die in mehreren deutschen Städten demonstrieren und am Gerücht einer Vergewaltigung durch Flüchtlinge festhalten, hat nach Ansicht von Beobachtern mit der Stimmung zu tun, die unter ihnen herrscht. Als ab Anfang der 1990er-Jahre Hunderttausende Menschen aus Russland in die Bundesrepublik kommen, haben Politik, Medien, aber auch viele Einheimische das begrüßt. Gleichwohl fühlen sich viele Russlanddeutsche auch zwei Jahrzehnte später nicht voll akzeptiert. Angesichts des Flüchtlingsstroms seit 2015 und der in den ersten Wochen praktizierten Willkommenskultur hat sich dieses Unbehagen verstärkt. Es hält einen Fall am Kochen, den es eigentlich gar nicht gibt. Denn zwar hat die 13-jährige Lisa seit einiger Zeit einvernehmlich Sex mit einem über 20-jährigen Deutschtürken gehabt. Das ist aufgrund des Alters des Mädchens strafbar und hat die Staatsanwaltschaft auf den Plan gerufen; ein Jahr nach dem Fall kommt es zum Prozess wegen sexuellen Missbrauchs, der im Juni 2017 mit einer Bewährungsstrafe für den jungen Mann endet. Verschwunden aber sei das Mädchen, so die Polizei, wegen Problemen in der Schule. Sie habe sich einfach nicht nach Hause getraut und sich die fragliche Nacht bei einem 19-jährigen Bekannten versteckt. Das ergeben unter anderem rekonstruierte Daten auf dem Handy des Mädchens. Die Entführung und Vergewaltigung habe sie als Entlastung für ihr eigenes Verhalten erfunden; für eine Sexualstraftat habe es bei der rechtsmedizinischen Untersuchung keine Hinweise gegeben.15

Warum haben viele Russlanddeutsche, die seit Jahren in der Bundesrepublik leben, Lisas wilden Beschuldigungen gegenüber der Polizei geglaubt? Warum sind so viele US-Wähler Trump und eine knappe Mehrheit der abstimmenden Briten den Brexit-Befürwortern gefolgt? Weil sie daran glauben wollten. »Faith-based intelligence« nennt man derlei im Jargon der anglo-amerikanischen Nachrichtendienste – frei ins Deutsche übersetzt: Wunschdenken.

Was bringt die Beschäftigung mit Falschmeldungen und Gerüchten? »Für den Historiker ist ein Irrtum nicht bloß ein Irrtum«, schrieb der französische Historiker Marc Bloch schon 1921 in einem Aufsatz über Falschmeldungen im Krieg, in dem es weiter heißt: »Der Historiker betrachtet den Irrtum auch als Untersuchungsgegenstand, mit dem er sich beschäftigen muss, wenn er eine Verkettung menschlicher Handlungen verstehen will. Falsche Berichte haben schon Massen bewegt. Die Menschheitsgeschichte ist voll von Falschmeldungen in der ganzen Vielfalt ihrer Formen.« Seiner Analyse ließ Bloch klare Fragen folgen: »Wie entstehen sie? Woher beziehen sie ihre Substanz? Wie breiten sie sich aus? Das wird jeden interessieren müssen, der sich mit Geschichte beschäftigt.« Gleichwohl merkte der gerade an die Straßburger Universität berufene junge Professor selbstkritisch gegenüber der eigenen Zunft an: »Allerdings finden wir darüber in der Geschichtswissenschaft nur wenig Aufklärung. Unsere Vorgänger stellten sich solche Fragen nicht, sondern verwarfen alles, was sich als Irrtum herausstellte. Sie interessierten sich nie dafür, wie ein Irrtum entstand und sich entwickelt.« Das müsse sich ändern, verlangte Bloch, der in den 1920er- und 1930er-Jahren zu einem der prägenden Vordenker erst der französischen, indirekt und lange nach seinem Tod auch der internationalen Geschichtswissenschaft wurde.

Doch bis in die jüngste Zeit schenkten Historiker, Journalisten und Öffentlichkeit Falschmeldungen, die sich zu Gerüchten entwickelt und politisch bedeutsame Folgen gehabt haben, vergleichsweise wenig Interesse. Spätestens seit Trump beginnt sich das zu ändern. Falschmeldungen, Gerüchte oder »Fake News« geben, wie die Beispiele aus den USA, Großbritannien und Deutschland zeigen, Auskunft darüber, was in einer bestimmten historischen Situation als vorstellbar oder sogar wahrscheinlich gilt. Ernstgenommene Falschmeldungen und Gerüchte sind ein geeignetes Instrument zur Analyse vergangener Wirklichkeit. Man kann mit ihnen ergründen, welche politischen Grundsätze, ideologischen Vorurteile und praktischen Erfahrungen wirksam werden – sei es in der ganzen Gesellschaft oder in Teilen davon. Um zu klären, warum Menschen Falschmeldungen Glauben schenken und daraus folgenreiche Gerüchte entstehen, muss man nach Bloch auch herausfinden, welche Motive sie haben – sei es auch nur, um der Täuschung besser auf die Spur zu kommen. »Solange ihre Beweggründe unklar sind [die der Menschen, die an eine Falschmeldung glauben], werden sie sich der Analyse widersetzen und daher nur unvollständig nachgewiesen werden können.« Für den Historiker stellt eine Falschmeldung, die als Gerücht in die Öffentlichkeit gelangt und wegen ihrer Folgen greifbar wird, ein Zeugnis dar: ein Zeugnis, das nicht Auskunft gibt über das, was ein Zeuge tatsächlich sah, sondern über das, was zu sehen er für selbstverständlich oder wahrscheinlich hielt.16

Was sind »Gerüchte« oder »Fake News«? Die Schwierigkeiten beginnen schon beim Begriff selbst. Das deutsche Wort »Gerücht« stammt ab vom mittelhochdeutschen »gerüefte« und meint ursprünglich das (rechtlich relevante) »Zetergeschrei«, mit dem man seinerzeit eine Straftat bekannt machen musste. Wohl ab dem 16. Jahrhundert bezeichnet das Wort dann nur noch »Gerede«, besonders »unverbürgtes Gerede«. Der englische und der französische Begriff dagegen, »rumour« (amerikanisch »rumor«) und »rumeur«, gehen zurück auf das lateinische Wort »rumor«. Es stammt etymologisch aus der Wurzel für »dumpfes Geräusch« und bezeichnet etwa den Klang von Ruderblättern. Schon früh verstand man darunter aber auch das »Gerede der einfachen Leute« – ins Positive gewendet die »öffentliche Meinung« und negativ verstanden »Klatsch« oder »Verleumdung«. Zugleich kannte das Lateinische als Entlehnung aus dem dorischen Griechisch (»phama«) das Wort »fama« (attisches Griechisch »pheme«). Seine Bedeutungen konnten extrem unterschiedlich sein; sie reichen von »Sage« und »guter Ruf« über allgemein »Leumund« und »öffentliche Meinung« bis zu »üble Nachrede«; im Griechischen kamen noch die Bedeutungen »göttliche Stimme« und »Orakelspruch« hinzu. Personifiziert als Göttin war Fama zum Beispiel in Vergils Aeneis zuständig für »Lug und Falsches«. Der Epiker nannte sie »Scheusal« und »grässliche Riesengestalt«; sie »entflammt durch Reden das Herz« und »stachelt den Zorn an«. Für den eine Generation späteren Dichter Ovid war die Göttin Fama eine »schwatzende Mär, die dem Wahren Falsches zu tun liebt und von kleinem Beginn anwächst durch häufige Lügen«. Doch keineswegs immer wurde »fama« derart negativ verstanden; Renaissance und Barock kannten die »fama mala« ebenso wie die »fama triumphans«, also »bösen« und »guten Ruf«. Diese positive Bedeutung hat sich sowohl im englischen wie im (selteneren) französischen Wort für »Ruhm« erhalten: »fame« bzw. »famé«. Die Bedeutung von »fama« verschob sich gegenüber den Vorstellungen der lateinischen Dichter derart stark, dass zeitweise sogar manche seriösen Zeitungen so hießen. So trug die sächsische Zeitschrift Neuestes Allerley der merkwuerdigsten Begebenheiten unsrer Zeit zwischen 1776 und 1846 den Haupttitel Leipziger Fama.17

Die Sprachwissenschaft hilft also nicht bei der Definition des Phänomens »Gerücht«. Vielleicht führt ein Blick in die wichtigen Enzyklopädien weiter? Im Zedler, dem größten deutschsprachigen Lexikon der Aufklärung, heißt es ganz im Sinne der im 18. Jahrhundert geläufigen Doppelbedeutung: »Gerücht ist ein Ruff oder Rede, so einem entweder zu Ehren oder zum Schimpfe ausgebracht wird.« In der sechsten Auflage von Meyers Großem Konversationslexikon, der prägenden Enzyklopädie des deutschen Bildungsbürgertums am Beginn des 20. Jahrhunderts, wird »Gerücht« gar nicht verzeichnet, sondern nur auf den Eintrag »Zetergeschrei« verwiesen. Laut Meyers Enzyklopädischem Lexikon von 1974 ist »Gerücht heute nur noch im Sinne von ›umlaufendes, unverbürgtes Gerede‹ gebräuchlich«. Für das Deutsche Wörterbuch des Duden-Verlages ist ein Gerücht »etwas, was allgemein gesagt, weitererzählt wird, ohne dass bekannt ist, ob es auch wirklich zutrifft«. Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia definiert knapp: »Ein Gerücht ist die Verbreitung einer unverbürgten Nachricht.«

Über das Wesen von »Gerüchten« machen sich seit mehr als fünf Jahrzehnten auch Sozialpsychologen und Vertreter verwandter Disziplinen Gedanken. Die beiden US-Forscher Gordon W. Allport und Leo Postman zum Beispiel, die als erste Wissenschaftler systematisch dem Phänomen nachgingen, verstanden darunter 1946 eine »mit den Tagesereignissen verbundene Behauptung, die geglaubt werden soll, gewöhnlich von Mensch zu Mensch mündlich weitergegeben wird, ohne dass genaue Fakten vorhanden sind«. Ähnlich definierten ihre Kollegen Warren A. Peterson und Noel P. Gist wenige Jahre später »Gerücht« als »Berichte oder Erklärungen, die nicht bestätigt sind, von Mensch zu Mensch verbreitet werden und ein Objekt, ein Ereignis oder eine Frage von öffentlichem Interesse behandeln«. Der amerikanische Soziologe Tom Shibutani sah 1966 in Gerüchten vor allem »improvisierte Nachrichten«. Seiner Ansicht nach sind sie Formen kollektiven Austausches, die in einer Situation relativer Unwissenheit über ein Ereignis auftreten, in denen vertrauenswürdige Informationen über die Massenmedien nicht verfügbar sind, aber die Menschen verstehen möchten, was vorgefallen ist: »So beginnen sie mit der Gerüchtebildung, um zu versuchen, die Lücken in den offiziellen Informationen zu füllen.« Franz Dröge definierte 1970: »Das Gerücht zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, daß es keine eindeutig identifizierbare Quelle besitzt, im Gegensatz zu allen medialen Aussagen, die durch das Medium in ihrer Herkunft definiert sind. […] Es wird sogar in Krisenzeiten, in denen die Medien ausfallen oder keine ausreichenden Informationen vermitteln, noch heute zum unverzichtbaren Kommunikationsmittel für viele Menschen, die versuchen, sich ein Bild von der Lage zu machen.«

Ein »Rezept« für Gerüchte schlug 1992 der Historiker Ulrich Raulff vor: »Man nehme eine Bevölkerung, sagen wir zweihundert oder zweihunderttausend Leute, versetze sie in eine Situation der Angst, Not oder Lebensgefahr. Letztere braucht nicht real zu sein; die bloße Vorstellung genügt. Anstelle von Angst kann auch revolutionäre Unruhe zur Wirkung kommen. Sodann entziehe man die Informationen oder lasse nur noch offenbar gefälschte oder zensierte zu. Binnen kurzer Zeit schon stellen sich die Resultate ein: Die Gerüchteküche brodelt, Dunstschwaden ziehen, und der Durchblick schwindet.« Wichtig war Raulff allerdings, dass die Gleichung »Gerücht = Irrationalität der Unterschichten« nicht aufgehe: »Der Dunst kann genausogut von ›oben‹ kommen, und er kann gewollt abgelassen worden sein. Nicht alles, was dampft, muß Armeleuteküche sein.«

Prosaischer sah der französische Soziologe Jean-Noël Kapferer 1996 auf »das älteste Massenmedium der Welt« und beschrieb es so: »Das Gerücht ist zuallererst eine Information. Es vermittelt neue Einzelheiten über einen Menschen oder ein Ereignis, die mit dem Tagesgeschehen verbunden sind. Hierin unterscheidet es sich von der Legende, die einen der Vergangenheit angehörenden Sachverhalt behandelt. Zweitens soll das Gerücht geglaubt werden. […] Das Gerücht will überzeugen.« Der Zeithistoriker Stefan Wolle schrieb 1997 mit Blick auf die DDR: »Gerüchte sind die Ersatzöffentlichkeit des ›kleinen Mannes‹. Sie sind unkontrollierbar, anarchistisch, subversiv und decouvrierend, also gefährlich für die Staatsmacht; sie sind andererseits ebenso wie der politische Witz aber auch Ventil, Triebabfuhr und Surrogat, insofern systemstabilisierend.« Gleich eine ganze Reihe von Eigenschaften beschrieb 1998 der Literaturwissenschaftler Hans-Joachim Neubauer: »Gerüchte […] sind komplizierte Gebilde. […] Ihr eigentliches und primäres Medium ist das Hörensagen. […] Als flüchtige kollektive Ereignisse existieren sie nur im Moment ihrer Kommunikation. […] Was alle sagen, ist noch kein Gerücht, sondern das, von dem man sagt, daß es alle sagen. Gerüchte sind Zitate mit einer Lücke. Unbestimmt bleibt, wen sie zitieren; wer in ihnen spricht, weiß niemand.« Der Soziologe Wolfgang Sofsky schließlich schrieb 2003 im Hinblick auf den Irak-Krieg: »Gerüchte sind unbestätigte und nicht selten unbeweisbare Nachrichten, an deren Wahrheit geglaubt wird. Sie erregen eine dichte Kommunikation, kursieren ungeregelt innerhalb des politischen und sozialen Feldes.«18

Die Fülle von Definitionsversuchen zeigt, wie schwierig das Phänomen zu fassen ist. Jedoch können auf ihrer Basis und in Abgrenzung zu verwandten Begriffen relevante Eigenschaften des Gerüchts abgeleitet werden. Ein zentrales Merkmal ist die Ungewissheit beziehungsweise die Unklarheit über den Wahrheitsgehalt des Gerüchts. Bloch und Kapferer sprechen vom »Modus des Unbestimmten«. Laut Bloch entstehen Falschmeldungen häufig aus ungenauen individuellen Beobachtungen oder unvollständig wahrgenommenen Augenzeugenberichten. In ihnen drücken die Menschen unbewusst ihre Vorurteile, Abneigungen und Ängste aus. Damit daraus ein Gerücht werden kann, das sich selbstständig ausbreitet, muss die Verbreitung der Falschmeldung allerdings durch einen bestimmten Zustand der Gesellschaft begünstigt werden: »Nur die großen kollektiven Stimmungen haben überhaupt die Kraft, aus falschen Wahrnehmungen ein Gerücht zu machen«, schreibt Bloch. Jean-Noël Kapferer hat acht Arten definiert, auf die Gerüchte entstehen können. Das Spektrum zeigt, dass die Entstehungsgeschichte jedes Gerüchts jeweils einzeln betrachtet werden muss. Danach können Gerüchte entstehen: erstens durch vertrauliche Mitteilungen, die an »undichten« Stellen durchgesickert sind; zweitens durch beunruhigende Sachverhalte, die erklärt werden wollen; drittens durch Augenzeugenberichte, die unrichtig weitergegeben werden; viertens durch Fantasievorstellungen, die jeglicher Grundlage entbehren; fünftens durch wiederkehrende Mythen; sechstens durch Missverständnisse, die aus der falschen Deutung von Mitteilungen entstehen; siebtens durch Manipulationen, die bewusst in Umlauf gebracht wurden; achtens durch gutgläubige Veröffentlichungen unbestätigter Fakten.

Beide Erklärungsmuster verdeutlichen: Ein Gerücht ist eine besondere Form der Kommunikation, die aus dem Missverhältnis zwischen Informationsangebot und Informationsbedürfnis entspringt. Die Entwicklung der Kommunikation spielt für die Verbreitung der Falschmeldung, die zum Gerücht wird, dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Dass sich Gerüchte vor dem Zeitalter von Radio und Fernsehen verbreiten konnten, ist nicht überraschend. Aber auch diese modernen Medien, die bei oberflächlicher Betrachtung eigentlich geeignet erscheinen, Gerüchte schnell und umfassend zu widerlegen, können das Aufkommen und die Verbreitung von Falschmeldungen nicht verhindern. Im Gegenteil: Oft sind es gerade moderne Medien, die bewusst benutzt werden. Entscheidend ist: Wer einer Sache Bedeutung beimisst, will darüber etwas wissen. Wenn die zur Verfügung stehenden Informationen quantitativ eingeschränkt sind, also zu wenige oder gar keine Nachrichten vorhanden sind, oder aber qualitative Defizite aufweisen, also kein ausreichendes Vertrauen zur Informationsquelle besteht, entstehen fast automatisch Gerüchte. Sie sind insofern ein Indiz für fehlendes Vertrauen in die gewöhnlichen Informationskanäle.

Dies trifft umso mehr auf »Fake News« zu. An sich ist das kein neuer Begriff, er kommt bereits im 19. Jahrhundert vor und bedeutet wörtlich aus dem Englischen übersetzt nichts anderes als »(bewusste) Falschmeldungen«. Mit der wachsenden Präsenz sozialer Netzwerke wandelt sich jedoch die allgemeine Definition. »Fake News«, immerhin zum Anglizismus des Jahres 2016 gekürt, werden zunehmend als politisch motivierte Lügen begriffen, die sich vom harmlosen Scherz oder vom spielerischen Schneeballeffekt unterscheiden, mit denen Meldungen im Netz auch verbreitet und »Hoax« genannt werden. Schon tauchen Analysen auf, die »Fake News« als neuen Kampfbegriff bezeichnen. Auf alle Fälle verbirgt sich dahinter ein neues Phänomen, dessen Wirkung der Medientheoretiker Udo Göttlich beschreibt. Ihm machen vor allem die rasche und »virale« Verbreitung sowie der veränderte kommunikative Charakter Sorgen: »Zeitungsenten waren meist unabsichtliche Falschmeldungen, die dann professionell korrigiert worden sind. Fake News dagegen sind gar nicht darauf ausgelegt, die ›Wirklichkeit‹ darzustellen. Sind sie einmal in der Welt, dann geht es um die schnelle Verbreitung durch Likes, die ihren Gehalt zusätzlich autorisieren, weil man seinen Freunden vertraut. Sie funktionieren, weil bestimmte Lesergruppen die Popularität einer Nachricht als Maßstab für deren Validität nehmen.«19

Anders ausgedrückt: »Fake News« und Gerüchte unterscheiden sich von anderen Kommunikationsformen durch die Weise, in der sie transportiert werden: nämlich als Botschaft, bei der es irrelevant ist, woher sie kommt, ob sie wahr oder falsch ist, ob sie mündlich oder medial transportiert wird. Zwar ist vielen Empfängern klar, dass es sich um unbestätigte und zweifelhafte Informationen handelt; sie geben sie auch als solche weiter – bis die Inhalte jedoch irgendwann zu vermeintlicher »Wahrheit« kondensieren. Je unverständlicher Menschen ihre Umwelt erscheint, je bedrohlicher sie wirkt, je schwieriger zu entscheiden ist, was wahr und was falsch ist, desto eher werden sich Menschen mit dem Hörensagen befassen, dessen Wahrheitsgehalt zwar unbestimmt ist, das ihnen aber plausibel erscheint.20

In diesem Buch verstehen wir unter »Gerücht« und »Fake News« sachlich falsche Nachrichten über politische Zusammenhänge gleich welchen Ursprungs, die während eines politischen Prozesses aufkommen oder aufgebracht werden, die sich anonym verbreiten oder mindestens ohne Zutun ihres Urhebers weiterentwickeln, die in einer mehr oder weniger großen Gruppe von Menschen geglaubt werden und die zu einem politisch wichtigen Ereignis führen.

Wir führen im vorliegenden Buch an elf Beispielen aus dem 20. und 21. Jahrhundert vor, wie Falschmeldungen und Gerüchte im Spannungsfeld zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit wirken. Anschließend schildern wir in einem Kapitel, wie man »Fake News« bekämpfen kann. Aus der Fülle möglicher Themen haben wir uns für Fälle entschieden, die von zentraler Bedeutung für Deutschland waren bzw. sind; der Bogen reicht von der ausgehenden Weimarer Republik, das kollabierende »Dritte Reich« und die beiden Teilstaaten während des Kalten Krieges bis zur einigen, freien und rechtsstaatlichen Bundesrepublik des Jahres 1999, der Verwerfungen auf den Finanzmärkten 2007/08 und der Flüchtlingskrise, die 2017 noch nicht beendet ist. Dabei decken wir ganz unterschiedliche Arten von Gerüchten und Falschmeldungen ab: Vorsätzlich gestreute Desinformationen kommen ebenso vor wie ohne bewusste Manipulation gewachsene Missverständnisse; Falschmeldungen mit verheerenden Folgen ebenso wie – in zwei Fällen – Irrtümer mit politisch positiven Auswirkungen. In allen elf Kapiteln gehen wir in gleicher Weise vor: Wir erzählen, wie das jeweilige Gerücht in die Welt trat, beschreiben, wie es sich weiterentwickelte, skizzieren den historischen Hintergrund und analysieren schließlich den Wahrheitsgehalt der folgenreichen Falschmeldung.

Vom Thema unseres ersten gemeinsamen Buches mit dem Titel Deutsche Legenden. Vom ›Dolchstoß‹ und anderen Mythen der Geschichte (Ch. Links Verlag 2002) unterscheidet sich der Gegenstand dieses Bandes vor allem durch das Aufkommen der Fehlinformation während eines laufenden politischen Prozesses. Legenden dagegen sind stets nachträgliche Verfälschungen der Realität, die sich erst mit wachsendem Abstand von den Geschehnissen verselbstständigen.

Falschmeldungen und Gerüchte haben in gesellschaftlichen Umbruch- und Krisenzeiten Hochkonjunktur. Sie treten häufiger in totalitären Gesellschaften in Erscheinung, die Informationen und Medien streng regulieren und kontrollieren, kommen aber auch in freien Gesellschaften vor, dort aber vor allem in Organisationen mit strengen Hierarchien und damit stark eingeschränkten Kommunikationsstrukturen, zum Beispiel in Armeen. Im Krieg werden als Soldaten eingezogene Zivilisten abrupt aus ihrem bisher geregelten Leben gerissen. Zum plötzlichen Bruch mit wesentlichen sozialen Bindungen, die zu moralischer Verunsicherung führen, kommt die körperliche Erschöpfung durch die belastenden Umstände an der Front: »Aufgrund ihrer Unerfahrenheit sind die Soldaten beim Einmarsch von Angst und Schrecken beherrscht, die um so größer sind, als sie zwangsläufig verschwommen bleiben. […] Die Nerven liegen bloß, die Phantasie ist aufs Äußerste erregt, die Wahrnehmung der Wirklichkeit gestört«, schreibt Marc Bloch, der sich aus eigenem Erleben ausführlich mit Falschmeldungen und Gerüchten im Ersten Weltkrieg beschäftigt hat.21

Stehen die politisch Verantwortlichen dazu noch unter Druck, kann geschehen, was wir im Kapitel über den »Hufeisenplan« 1999 beschreiben. Er wurde vom damaligen Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping zu Beginn des NATO-Kampfeinsatzes auf dem Balkan präsentiert als Beweis für den geplanten »Genozid« der Serben an der albanischen Bevölkerung im Kosovo. Als aufsehenerregende Tat diente Scharping nicht nur ein angebliches Massaker an Zivilisten in Račak, sondern auch Meldungen, wonach Serben albanischen Frauen die Föten herausgeschnitten und mit abgeschlagenen Köpfen Fußball gespielt hätten.22

Manche folgenreiche Falschmeldungen entstehen ohne jedes Zutun von interessierten Kreisen; sie beruhen schlicht auf wiederholten irrigen Wahrnehmungen der Zeitgenossen, auf daraus resultierenden falschen Schlussfolgerungen sowie den Gesprächen über sie. Selbst solche »urheberlosen« Gerüchte können fatale politische Folgen haben, wie wir anhand des vermeintlichen »Schleicher-Putsches« Ende Januar 1933 zeigen. In der gesellschaftlichen Elite und der Regierung nahestehenden Kreisen kursierte am letzten Wochenende vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler eine ungesteuerte und nicht prognostizierbare Erwartung, die keinerlei reale Grundlage hatte, die leicht (nämlich durch einen einzigen Telefonanruf) hätte widerlegt werden können – und die dennoch die deutsche, die europäische und die Weltgeschichte entscheidend veränderte.

Andere Gerüchte beruhen auf bewusst gestreuten Desinformationen. Das zeigen wir zum Beispiel im Kapitel über die Kartoffelkäferplage 1950 in der DDR, für die von der SED-Regierung mit Verweis auf Sachverständige die USA verantwortlich gemacht wurden. Dabei bediente sich die DDR-Führung besonders perfide des Mittels der Propaganda, indem sie Informationslücken über das plötzliche Auftreten des Schädlings bewusst mit »Nachrichten« ausfüllte, die ein Gerücht hervorriefen. Die SED zielte dabei mit den Bauern auf eine existenziell besonders betroffene Zielgruppe, was eine schnelle Verbreitung des Gerüchts begünstigte. Gerüchte gehörten in der DDR ohnehin zum Alltag, weil die Führung zum einen die Mehrheit der Bevölkerung von seriösen Informationen ausschloss, gleichzeitig aber versuchte, die eklatanten Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit mit der Tabuisierung vieler Probleme zu parieren und mit Erfolgspropaganda zu überdecken. Das heizte die Gerüchteküche an. Einmal in Umlauf gebracht, mutierte Hörensagen schnell zu »Wahrheiten«, die man sich an der Ostseeküste ebenso erzählte wie in Thüringen oder in Ost-Berlin.

Andererseits gab es in der DDR Gerüchte, die vom Ministerium für Staatssicherheit gezielt als Herrschaftsinstrument eingesetzt wurden. Besonders beliebt war das Lancieren falscher oder verfälschter Informationen über Regimegegner, vom MfS selbst dezidiert als »Inszenieren von Gerüchten« bezeichnet. Derlei »Desinformation« wurde von der Stasi charakterisiert als »bewußte Verbreitung von den Tatsachen grundsätzlich oder teilweise widersprechenden Informationen durch Wort, Schrift, Bild oder Handlungen […] mit dem Ziel, feindliche Kräfte über die eigenen Pläne, Absichten und Maßnahmen zu täuschen sowie Aktivitäten und Kräfte des Feindes in dem MfS genehme Richtungen zu lenken bzw. diese Kräfte zu verunsichern«. Das Instrument der Machtsicherung wurde auch in der sogenannten Westarbeit der Stasi benutzt, wie unser Kapitel über Bundespräsident Heinrich Lübke beweist, der in den Sechzigerjahren das Opfer einer bewussten Desinformationskampagne und Manipulation der SED wurde.23

Gerüchte, die durch entsprechende Propaganda angestoßen und verbreitet werden, gedeihen aber ebenso in Demokratien, und zwar meist dann, wenn eine unklare und unbefriedigende Informationslage anzutreffen ist. Zwei Beispiele verdeutlichen das im vorliegenden Buch: Im Bestreben, von ihren Gefängniszellen aus den »Klassenkampf« weiterzuführen, verbreiteten die Gründer der RAF Anfang und Mitte der Siebzigerjahre das Gerücht, sie würden in Isolationshaft gehalten und gefoltert. Die Behörden reagierten mit hilflosen Dementis statt mit einer offenen, aktiven Informationspolitik. Der Vorwurf der RAF-Spitze konnte daher durch Journalisten nicht überzeugend widerlegt werden. Das hatte nicht nur Proteste in einem nennenswerten Teil der deutschen Öffentlichkeit zur Folge, sondern führte auch zur Bildung der »zweiten Generation« der Terrorgruppe. Mit dem Gerücht gelang Andreas Baader und Ulrike Meinhof gewissermaßen die Rekrutierung des eigenen »Nachwuchses«.

Anders gelagert, nämlich nicht bewusst manipulativ, ist das Beispiel eines der beherrschenden Medienthemen der frühen Achtzigerjahre: Waldforscher und Illustriertenredakteure erschreckten seinerzeit mit apokalyptischen Prognosen zum »Waldsterben« die bundesdeutsche Bevölkerung. Erfolgreich drängten sie die Bundesregierung in kürzester Zeit zu einer konsequenteren Luftreinhalte-Politik. Gerade das Kapitel Waldsterben zeigt nicht nur, wie sensibel moderne Mediendemokratien auf inszenierte »Ereignisse« reagieren können, sondern auch, wie Medien und Politik in ihrem (zwangsläufigen) Bestreben, komplexe Tatsachen zu vereinfachen und direkte Kausalitäten nachzuweisen, den eigenen Trugbildern erliegen. Ein weiteres Beispiel für Falschmeldungen mit einem positiven Ausgang ist der letztlich geglückte Versuch der Bundesregierung in der Finanzkrise, die Bevölkerung vom massenhaften Abheben ihrer Guthaben bei Banken abzuhalten.

Die von Gerüchteforschern als Charakteristikum erfolgreicher Gerüchte herausgearbeitete Kombination von Unsicherheit, Mehrdeutigkeit und hoher Relevanz des Sachverhaltes spielt auch im Kapitel um den Fall der Mauer im November 1989 eine wesentliche Rolle. Die unsicher vorgetragene Ankündigung des SED-Politbüromitglieds Günter Schabowski, laut der die DDR ihre Grenzen für ständige Ausreisen und Reisen »ab sofort« öffnen wolle, führte bei der hoch sensibilisierten ostdeutschen Bevölkerung zu einer allgemein akzeptierten Auslegung der Geschehnisse, die durch entsprechende Medienberichte scheinbar bestätigt wurden. Die kollektiv gezogene Schlussfolgerung war jedoch nichts anderes als ein Gerücht. Es führte zu einer Erwartung, die keinerlei Grundlage in der Realität hatte, sowie zu Emotionen, die schließlich genau das Ereignis herbeiführten, von denen das Gerücht zuvor gehandelt hatte.

Marc Bloch hatte in seinem Aufsatz von 1921 über Falschmeldungen im Krieg angeregt: »Es wäre extrem hilfreich, wenn ein Journalist uns eine gute, also begründete und lautere Studie über die Entstehung von Zeitungsberichten schreiben würde; nichts wäre nützlicher für die Quellenkritik, wie sie für die Zeitgeschichte so notwendig ist.« Als gelernte Historiker sowie als Redakteure für Innenpolitik und Zeitgeschichte bei einer überregionalen Zeitung fühlten wir uns von dieser Idee Blochs angesprochen. Gleichwohl wollen wir keine fachspezifische Abhandlung über die Zwänge des journalistischen Alltags vorlegen, sondern vielmehr Blochs Gedanken über Falschmeldungen und ihre Entwicklung zu Gerüchten mit Hilfe kommunikativer Mittel aufgreifen. Eine Theorie des Gerüchts in zeithistorischer Perspektive soll und kann dieses Buch nicht liefern; uns geht es vielmehr um den geschichtsjournalistischen Blickwinkel. Denn nirgendwo berühren sich Medienwelt und historische Wissenschaft mehr als gerade bei den folgenreichen Falschmeldungen in der Epoche der Medienrevolution, also im 20. und 21. Jahrhundert.

Berlin, Pfingsten 2017

Lars-Broder Keil
Sven Felix Kellerhoff

»Potsdam marschiert«

Kurt von Schleichers vermeintlicher Staatsstreich 1933

»Es drohte damals, was wenig bekannt war,
ein Putsch seitens Schleicher-Hammerstein
mit der Potsdamer Garnison.«

Hermann Göring, 19461

Der 28. Januar 1933 ist ein kalter Wintersamstag. Die frostigen Temperaturen halten das schicke Berlin nicht davon ab, an diesem Abend kräftig zu feiern. Die feine Gesellschaft vergnügt sich beim Berliner Presseball. Ausgelassen geht es zu in dieser Nacht in den Festsälen am Zoologischen Garten; es wird viel getanzt und noch mehr getrunken. Der Dirigent Wilhelm Furtwängler amüsiert sich ebenso wie der Komponist Arnold Schönberg, der Schriftsteller Carl Zuckmayer und der Star-Tenor Richard Tauber. Dass keine führenden Nationalsozialisten unter den Gästen weilen, ist nicht weiter erstaunlich: Sie werden nicht vermisst, weil sie ohnehin nicht erwartet wurden. Existiert doch bei den Pressebällen Anfang der Dreißigerjahre noch weiter das Lebensgefühl der »Goldenen Zwanziger«: Liberalität, Tanzmusik und Travestie. Also das, was Hitler-Anhänger wie Kommunisten gleichermaßen verabscheuen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Einige Ballbesucher registrieren allerdings sehr wohl, dass Staatssekretär Otto Meissner, der Chef des Reichspräsidialamtes und einer der einflussreichsten Strippenzieher der deutschen Politik, nicht erschienen ist. Pikiert vermeldet die Vossische Zeitung, Meissner habe sich »von seiner Gattin vertreten« lassen. Das ist bemerkenswert, denn gewöhnlich nutzt der Spitzenbeamte, der dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert ebenso gedient hat, wie er nun dem erzkonservativen Paul von Hindenburg dient, jede Gelegenheit zur Kontaktpflege mit den hauptstädtischen Journalisten. Gerade mitten in einer handfesten Regierungskrise können informelle Gespräche wichtig sein. Dagegen wundert sich kaum jemand, dass der am Samstagmittag zurückgetretene Reichskanzler Kurt von Schleicher nicht erschienen ist. Aus dessen nun nur noch »geschäftsführendem« Kabinett haben sich immerhin einige Minister eingefunden. Führende Reichswehr-Militärs werden ebenfalls nicht gesichtet. Ist ihnen einfach nicht nach Feiern zumute oder braut sich etwas zusammen? Es wird kräftig spekuliert an diesem Abend: »Es kann und soll nicht geleugnet werden, dass hier sehr viel darüber gesprochen wird, wer von den leitenden Männern der Wilhelmstraße heute zu Gast bei den Männern der Feder sein, wer mit wem in der großen Ehrenloge bei einem Glas Sekt vertraulich sprechen wird. Denn daraus glauben die ganz Klugen, die Hellhörigen, die selbst in einer Ballnacht das Gras wachsen hören, Schlüsse auf das ziehen zu können, was sich in den nächsten Tagen in der Wilhelmstraße tun und begeben wird«, berichtet die Berliner Morgenpost.2

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Reichswehrminister General Kurt von Schleicher und Reichskanzler Franz von Papen 1932 in Berlin

Während die oberen Fünftausend der Reichshauptstadt am folgenden Sonntagmorgen ihren Rausch ausschlafen, ist das politische Berlin hellwach und höchst angespannt. Denn in den folgenden 48 Stunden müssen Entscheidungen fallen. Der bisherige Kanzler ist zurückgetreten und die nächste Reichstagssitzung, bei der es zur Kraftprobe kommen muss, für den kommenden Dienstag angesetzt. Aber ein Weg aus der Regierungskrise zeichnet sich nicht ab: Kommunisten und Nationalsozialisten haben gemeinsam die Mehrheit im Parlament; einig sind sich die beiden radikalen Parteien nur darin, jeden neuen Kanzler zu blockieren. Für eine konstruktive Politik dagegen findet sich in der Volksvertretung keine ausreichende Unterstützung. Deshalb sind an diesem Sonntag wieder einmal, wie schon seit dreieinhalb Wochen, Geheimverhandlungen angesetzt. Der Berliner NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels hat in den frühen Morgenstunden in sein Tagebuch geschrieben: »Heute wird Tau gezogen. Aber viel ist wohl nicht zu erreichen.« Es geht um eine Regierungsbeteiligung seiner Partei. Schleichers Vorgänger, Ex-Kanzler Franz von Papen, versucht an diesem Wochenende, ein Kabinett der »nationalen Rechten« zu bilden. Doch dieser Flügel der Gesellschaft ist zersplittert und untereinander verfeindet. Zweimal nur – 1929 bei der gemeinsamen Agitation gegen den Young-Plan über die Reduzierung der Reparationsverpflichtungen Deutschlands und 1931 bei einem Treffen in Bad Harzburg, bei der Bildung der sogenannten Harzburger Front – waren so unterschiedliche Organisationen wie die »Hitler-Bewegung«, die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) des Großverlegers Alfred Hugenberg und der reaktionäre Veteranenverband »Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten« aufeinander zugegangen. Seither kämpfen sie mindestens so sehr gegeneinander wie gegen die demokratischen Parteien der Weimarer Republik.

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