Der neue Landdoktor – 45 – Retter in der Not?

Der neue Landdoktor
– 45–

Retter in der Not?

Erik geht aufs Ganze

Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-885-9

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„Ist schon etwas Brauchbares dabei?“, wollte Sandra von ihrer Freundin Felicitas wissen.

„Mir fehlt noch das Rathaus als Hintergrund. Schließlich werdet ihr euch dort das Ja-Wort geben.“ Felicitas, die erste Fotografin des Bergmoosbacher Tagblatts, schaute auf das Display ihrer digitalen Kamera und betrachtete die Bilder, die sie bisher von Sandra und ihrem Verlobten Tobias aufgenommen hatte.

Das junge Paar wollte seinen bevorstehenden Hochzeitstermin mit einem hübschen Foto von sich im Tagblatt ankündigen. Tobias als leitender Redakteur und Sohn des Verlagsinhabers durfte für diesen besonderen Anlass über eine ganze Seite verfügen.

„Wir stellen uns vor den Brunnen.“ Sandra nahm Tobias an die Hand und zog ihn vor den schönen alten Steinbrunnen, dem Mittelpunkt des Marktplatzes.

Es war ein stimmungsvolles Bild, das sich Felicitas bot, als sie durch den Sucher ihrer Kamera schaute. Das Wasser, das sich aus dem steinernen Bären in den Brunnen ergoss, glitzerte in der Sonne, das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes glänzte im hellen Licht und der vergoldete Wetterhahn auf dem Rathausturm schien feurige Funken zu sprühen. Hinter dem Rathaus ragten die Gipfel der Allgäuer Alpen an den wolkenlosen blauen Himmel. Das Panorama der Berge bildete den beruhigenden Kontrast zu dem quirligen Leben im Vordergrund des Bildes. Es war die richtige Kulisse für ein Paar, dass eine gemeinsame Zukunft plante, die auch für sie aufregende und weniger aufregende Abschnitte bereithalten würde.

„Das könnte glatt als Werbefoto für das Tourismusbüro durchgehen.“ Anna Bergmann war im Schritttempo über den Marktplatz geradelt und hielt neben Felicitas an.

„Du hast ein gutes Auge, Anna. Falls du irgendwann mal keine Lust mehr hast, Babys auf die Welt zu helfen, könntest du es mit der Fotografie versuchen.“ Felicitas, die ihre Kamera auf das Paar vor dem Brunnen gerichtet hatte, schaute kurz auf, als die junge Hebamme neben ihr anhielt.

„Das wird so schnell nicht passieren. Ich liebe meinen Beruf, und vielleicht werden auch die beiden bald zu mir kommen.“ Anna betrachtete das Paar, das glücklich lächelnd für das Foto posierte.

Tobias, groß und sehr schlank mit hellem blondem Haar, in Jeans und tailliertem weißem Hemd, hielt Sandra liebevoll im Arm. Die junge Frau in dem hellroten Dirndl hatte ein hübsches rundliches Gesicht, trug ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und hatte große blaue Augen. Ihr ganzes Erscheinungsbild glich dem eines jungen Mädchens.

„Wie alt ist Sandra?“, fragte Anna leise, als Felicitas ihrem Blick folgte.

„Fünfundzwanzig.“

„Ich werde demnächst sechsundzwanzig. In unserer Familie sehen alle jünger aus. Das liegt an den Genen, hat meine Oma immer gesagt“, schaltete sich Sandra ein, die mitbekommen hatte, dass die beiden über sie sprachen.

„Ihr seid offensichtlich auch mit einem ausgezeichneten Gehör gesegnet.“

„Allerdings“, stimmte Anna Felicitas zu, weil auch sie sich darüber wunderte, dass Sandra ihre Unterhaltung hören konnte.

„Als ich noch ein Kind war, wohnte in unserer Nachbarschaft ein taubes Mädchen. Wir hatten uns angefreundet, und sie hat mich in die Kunst des Lippenlesens eingeweiht“, erzählte Sandra.

„Deshalb bekommt sie alles mit, was man sagt, auch wenn sie außer Hörweite ist. Ich muss wirklich sehr vorsichtig sein“, sagte Tobias und zog Sandra zärtlich an sich.

„Mit was denn genau?“, fragte Sandra spitzbübisch und sah zu ihm auf.

„Mit meinen Geheimnissen“, antwortete Tobias lächelnd.

„Die wären?“

„Wenn ich sie dir verraten würden, wären sie keine Geheimnisse mehr. Du hast doch auch deine Geheimnisse.“

„Jeder hat Geheimnisse.“

„Genug geredet, wir sind noch nicht fertig“, erklärte Felicitas, als Sandra plötzlich verunsichert zu Boden schaute.

„Viel Spaß weiterhin“, verabschiedete sich Anna. Sie war im Café am Marktplatz mit Sebastian verabredet, und sie wollte den gerade frei werdenden Tisch draußen unter der Kastanie erobern.

„Also dann, ihr Süßen, bitte lächeln!“, rief Felicitas und richtete ihre Kamera erneut auf Sandra und Tobias.

„Lächeln oder doch lieber küssen?“, fragte Sandra.

„Ich bin für küssen“, sagte Tobias und zog sie an sich.

„Die Liebe bringt nicht immer etwas Gutes“, seufzte Sieglinde Fechner, die pensionierte Studienrätin, die mit einem vollgepackten Einkaufskorb über dem Arm aus Fannys Lebensmittelladen kam. Vor einiger Zeit hatte sie heftig für einen Kunstprofessor geschwärmt, der ihr Sohn hätte sein können und der sich auch nicht wirklich für sie interessiert hatte.

„Die beiden sind jung und lieben sich, da lässt das Glück sich nicht lange bitten, Frau Studienrätin.“ Therese Kornhuber, die erste Vorsitzende des Landfrauenvereins, war nach Sieglinde aus Fannys Laden gekommen. Auch sie war auf das Paar am Brunnen aufmerksam geworden.

„Ich muss weiter“, murmelte Sieglinde. Sie zupfte einen weißen Fusel von der Jacke ihres dunkelbraunen Twinsets und eilte davon. Mit der Liebe hatte es bei ihr nie geklappt, das machte sie mal wieder ein bisschen wehmütig.

„Das war es. Ihr habt jetzt eine gute Auswahl. Ich bin sicher, ihr werdet das passende Foto für die Anzeige finden“, versicherte Felicitas Sandra und Tobias. „Ich gehe jetzt gleich in die Redaktion und schicke dir die Fotos auf deinen Rechner.“

„Danke, Feli, du bist die beste“, bedankte sich Sandra bei ihrer Freundin und küsste sie auf die Wange.

„Werde ich Tobias heute noch in der Redaktion sehen?“

„Nein, vermutlich nicht. Er hat sich heute Nachmittag freigenommen. Es gibt noch so viel zu besprechen und zu organisieren. Ich hätte mir ja gewünscht, dass er sich auch die ganze Woche freinimmt. Ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen, dass ich mir diesen Luxus der freien Tage allein gönne“, seufzte Sandra.

„Bitte, hab kein schlechtes Gewissen, sonst bekommst du noch Sorgenfalten, und die sollte meine Braut nicht haben. Du genießt deine freien Tage, versprich mir das?“

„Versprochen“, sagte Sandra und küsste ihn auf die Wange.

„Und jetzt organisieren wir uns einen Kaffee“, erklärte Tobias und nahm sie an die Hand.

„Sehr gern, mein Schatz“, erklärte sich Sandra lächelnd einverstanden. „Bis dann, Feli.“ Du siehst doch auch noch aus wie ein Teenager, dachte Sandra, als sie der jungen Frau in der roten Jeans und dem weißen Pulli nachschaute, die ihr helles Haar zu einem dicken Zopf geflochten hatte.

„Hätte das Tagblatt sich nicht entschlossen, noch eine zweite Fotografin einzustellen, hätte ich weder dich noch Felicitas je kennengelernt und auch nicht die anderen Bergmoosbacher, die ich inzwischen in mein Herz geschlossen habe“, wandte sich Sandra wieder Tobias zu.

„Und die dich in ihr Herz geschlossen haben, du entzückende liebenswerte Düsseldorferin“, sagte er und küsste sie auf die Nasenspitze.

„Düsseldorf ist für mich so weit fort. Ich habe die Stadt vor einer Ewigkeit verlassen.“

„Sechs Monate sind keine Ewigkeit.“

„Acht Monate. Bevor ich nach Bergmoosbach kam, war ich schon eine Weile in München. Aber ich habe dort keinen passenden Job für mich gefunden.“

„Für mich war das eine glückliche Fügung, aber du wolltest Modefotografin werden. Vielleicht hättest du nicht so schnell aufgeben sollen.“

„Ich habe dich gefunden, das ist alles, was zählt. Lass uns lieber über die Hochzeit reden, nicht über eine Vergangenheit, die mir nichts mehr bedeutet. Schade, es gibt draußen keine freien Plätze mehr“, stellte sie mit Bedauern fest, weil da alle Tische, die das Café unter dem dichten Laubdach der mächtigen Kastanie aufgestellt hatte, besetzt waren.

„Dann suchen wir uns drinnen einen hübschen Platz“, entgegnete Tobias.

„Na gut“, erklärte sich Sandra einverstanden, auch wenn sie viel lieber dem Treiben auf dem Marktplatz zugesehen hätte. Hier zwischen den hübsch restaurierten Häusern mit ihren Lüftlmalereien und dem prächtigen Rathaus trafen Tagestouristen, Langzeiturlauber und Einheimische aufeinander. Der Marktplatz war für Bergmoosbach wie der Times Square für New York. Es war immer etwas los. „Hallo, Doktor Seefeld“, begrüßte sie den jungen Arzt, der sich gerade zu Anna setzte, als sie an den Tischen vorbei zum Eingang des Cafés liefen.

„Wie geht es euch, ihr beiden? Ich meine, so kurz vor dem großen Tag“, erkundigte sich Sebastian freundlich.

„Ich fühle mich großartig, weil ich einen so wundervollen Mann gefunden habe“, antwortete Sandra, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen.

„Danke, dass du mich gefunden hast“, sagte Tobias und drückte sanft ihre Hand.

„Ihr sucht einen Platz?“, fragte Anna.

„Ja, drin im Café, hier draußen ist ja leider nichts mehr frei“, entgegnete Sandra.

„Wenn ihr nicht darauf besteht, allein zu sitzen, hier sind noch zwei Plätze.“ Anna deutete auf die beiden leeren Stühle an ihrem Tisch.

„Wir wollen aber nicht stören.“

„Bitte, setzt euch“, schloss sich Sebastian Annas Aufforderung an.

„Danke.“ Sandra nahm das Angebot sofort an. Es war ihr sogar sehr recht, dass sie Gesellschaft hatten. Das würde Tobias vielleicht davon abhalten, weitere Fragen nach ihrer Vergangenheit zu stellen, so wie er das gerade eben und auch schon an den Tagen zuvor häufiger getan hatte. Aber es gab da etwas, über das sie einfach noch nicht sprechen konnte, deshalb gab sie vor, dass es nichts in ihrer Vergangenheit gab, über das es sich zu berichten lohnte.

„Die Teilnehmerzahl für den Schwimmwettbewerb am nächsten Wochenende ist beeindruckend. Der Artikel im Tagblatt hat offensichtlich viele animiert, sich dieser Herausforderung zu stellen“, sagte Sebastian, nachdem die beiden sich zu ihm und Anna gesetzt hatten.

„Dem Sieger winkt ein Verwöhnwochenende für zwei Personen im Hotel Sonnenblick, und er oder sie wird mit der goldenen Nadel des Schwimmvereins ausgezeichnet. Das sind schöne Anreize. Außerdem finden es die Leute interessant, dass Einheimische und Urlaubsgäste gemeinsam an dem Wettbewerb teilnehmen dürfen“, erklärte Tobias die große Resonanz.

„Das mag sein, trotzdem ist die Teilnehmerzahl im Vergleich zu den vorherigen Jahren ungewöhnlich hoch.“

„Ich kann mir denken, woran das liegt“, sagte Anna.

„An was denn?“, fragte Sebastian, als Anna in sich hineinlächelte.

„Ich war gestern Abend mit meinen Freundinnen aus der Pilatesgruppe in der Bar vom Hotel Sonnenblick. Wir haben uns mit zwei netten jungen Männern unterhalten, die ein paar Tage in Bergmoosbach Urlaub machen und auch an dem Wettbewerb teilnehmen.“

„Zwei nette junge Männer, aha“, sagte Sebastian und hielt Annas Blick fest.

„Ja, sehr nett sogar“, entgegnete sie und hielt seinem Blick stand.

„Was konnten sie denn zu unserem Thema Schwimmwettbewerb beitragen, die beiden netten Herren?“, fragte Sebastian.

„Sie haben uns erzählt, dass sie nur aus einem Grund daran teilnehmen.“

„Der wäre?“

„Sie haben den Artikel im Tagblatt über den Höhlengulpert gelesen. Sie meinten, dass an einer Sage immer ein Quäntchen Wahrheit sei und dass vielleicht wirklich ein seltsames Wesen in einer Unterwasserhöhle im Sternwolkensee haust. Das verleiht der Herausforderung des Schwimmwettbewerbs im See einen Nervenkitzel, den sie sich nicht entgehen lassen wollen. Ich vermute, dass auch andere Teilnehmer das so sehen.“

„Angenommen, dass einige diese Art Nervenkitzel suchen, dann will ich mir lieber nicht vorstellen, was los sein wird, sollte während des Wettbewerbs etwas Unvorhergesehenes passieren. Stellt euch vor, eine plötzlich aufkommende Bö würde die Wellen über die Wasseroberfläche treiben.“

„Oder der Wind fegt über die Köpfe der Teilnehmer hinweg“, schloss sich Tobias Sebastians Spekulation an.

„Es könnte auch jemand an einer Alge oder einer Unterwasserpflanze hängenbleiben“, sagte Sandra.

„Was als Angriff des Höhlengulperts interpretiert werden könnte“, ließ auch Anna ihre Phantasie spielen, ohne ihren Blick von Sebastian abzuwenden.

„Mei, diese Geschichte nimmt schon recht große Ausmaße an.“ Mit einem tiefen Seufzer servierte Ursel Wermig, die langjährige Bedienung im Café Höfner, die Tassen mit dem Cappuccino, den die vier inzwischen bei ihr bestellt hatten.

„Was meinst du mit großen Ausmaßen?“, wollte Tobias wissen.

„Ich hab halt in den letzten Tagen schon viel Seltsames über den Schwimmwettbewerb gehört. Manche spekulieren, dass der Höhlengulpert, sich einen Gewinner auswählt und ihn dann ins Ziel trägt. Andere vermuten, dass er sich von den Schwimmern gestört fühlt und sie alle untergehen werden oder dass das Wasser einfach verschwindet und der See über Nacht austrocknet.“

„Lydia Draxler vom Tourismusverein hat es geahnt. Sie war sicher, dass die Geschichte über den Höhlengulpert, wenn sie es erst einmal in die Zeitung schafft, den Tourismus ankurbeln wird. Voilà, schon passiert“, stellte Sandra amüsiert fest.

„Meine Nichte ist eben eine echte Draxler, wir sind alle mit Weitsicht gesegnet“, meldete sich Elvira Draxler, die zweite Vorsitzende des Landfrauenvereins, zu Wort. Die hagere Frau in dem grauen Dirndl saß an einem der Nachbartische und ließ sich ein Stück Himbeerkuchen mit Sahne schmecken.

„Jetzt trumpfst du aber wieder gewaltig auf, Draxlerin“, entgegnete Therese Kornhuber, die an ihren Tisch kam und sich zu ihr setzte.

„Was heißt auftrumpfen? Jeder hat halt so seine Qualitäten und wir Draxlers wissen halt, was die Leute interessiert.“

„Elvira, da ist was dran“, antwortete Therese schmunzelnd. Elvira war stets an Neuigkeiten interessiert und sorgte auch dafür, dass sie sich möglichst schnell im Dorf verbreiteten.

„Da in Bergmoosbach viele vom Tourismus leben, sollten wir diese Sage als Ansporn nehmen und in alten Schriften nach weiteren Sagen suchen“, schlug Tobias vor. „Wozu wir dank Ihrer Tochter inzwischen auch wieder in der Lage sind“, wandte er sich an Sebastian.

„Das war schon ein recht großer Segen für uns, dass Ihre Emilia und der Mittner Markus das versteckte Archiv auf dem Dachboden der alten Imkerei gefunden haben. Wenn das Wissen über die Vergangenheit fehlt, dann ist das Dasein doch nur ein vergänglicher Hauch. Aber das Leben sollte doch Spuren hinterlassen, damit wir etwas zum Erinnern haben. Wir lernen doch auch aus der Vergangenheit.“

„Jetzt hör auf zu philosophieren und bring mir einen Kaffee“, forderte Therese Kornhuber Ursel auf.

„Nur die Ruhe, Kornhuberin, Cafés waren schon immer Orte der Phantasie und Philosophie“, erwiderte Ursel.

„Freilich, aber das Phantasieren und das Philosophieren ist den Gästen vorbehalten. Du kümmerst dich ums Servieren und Kassieren.“

„Auch noch ein Stückl Kuchen zum Kaffee?“, wandte sich Ursel an Therese und holte tief Luft, damit der Ärger verflog, den Therese mit ihrer spitzen Bemerkung heraufbeschworen hatte.

„Freilich, mit recht viel Sahne. In unserem Alter sind ein paar Pfunde mehr doch recht kleidsam und auch gesund“, sagte Therese, während sie die hagere Elvira musterte.

„Bist du auf Ärger aus?“, fauchte Elvira.

„Keineswegs, meine Liebe. Es ist einfach nur die Wahrheit. Nicht wahr, Doktor Seefeld?“, wandte sich Therese Sebastian zu.